Übersicht Donnerstag 03.10.2019

Von Abgehauenen, Daheim- und Zurückgebliebenen / Deutsche Heimatkunden

Am 24. September 1983, einem Samstag, reiste ich, allein, mit einem Ticket (nur Hinfahrt) und einem schäbigen Zettel, der mir die Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR attestierte – in meinen Augen ein unschätzbares Wertpapier -, ohne einen Pfennig Ost oder West, in einem Interzonenzug von Leipzig nach Hamburg. Rentnerbeige dominierte, und ängstliche Scheu; niemand wollte von einem einunddreißigjährigen Mitreisenden etwas wissen. Von dort, Freunde hatten es eingefädelt und organisiert, fuhr ich weiter ins niedersächsische Winsen/Luhe, wo mich Frau S., eine Rechtsanwaltswitwe, deren Familie aus Magdeburg stammte, freundlich willkommen hieß und für etliche Wochen in ihrem Haus beherbergte. Frau S. fuhr einen Lancia, sehr rasant, und sie engagierte sich im Kuratorium unteilbares Deutschland, was ich damals milde belächelte. Da ich in Leipzig bis zuletzt studiert hatte – evangelische Theologie am Theologischen Seminar, einer kirchlichen Hochschule und blühenden akademischen Insel im roten Meer -, begann ich mein zweites deutsches Leben als Sozialhilfeempfänger. Und war verpflichtet, zwei Mal in der Woche ein paar Stunden gemeinnützige Arbeiten in der Kommune zu verrichten. So fing ich an, dort, wo ich nun endlich als Schriftsteller leben zu können hoffte, erste Erfahrungen zu sammeln. Als existentielle Blessur habe ich diese Episode nie empfunden.
Über eine Monstrosität namens Ausreiseantrag ist schon viel berichtet worden. Der Schriftsteller Franz Fühmann, der die Trauer über den Entschluss eines jungen Kollegen mit dem kategorischen Verständnis verband, dort leben und arbeiten zu wollen, wo die eigenen Bücher erscheinen können, er sagte mir einmal, nachdem ich am 30. Juni 1982 in Leipzig – Reudnitz meinen Ausreiseantrag zur Post gebracht hatte, das Schlimmste an der Kriegsgefangenschaft sei das diffuse Warten gewesen, die prinzipielle Ungewissheit. Jeder wegen eines Gesetzesverstoßes verurteilte Häftling kenne sein Strafmaß und den Tag seiner Entlassung. Der Kriegsgefangene und der Ausreisewillige nicht.
Wenn ich über meine doppeldeutschen Lebenswege Auskunft gebe, so gewiss nicht als politisches Neutrum; aber ich spreche für mich und generalisiere nicht.
Es gab ein Bündel von Gründen, dass ich die DDR verlassen wollte, darunter das Aufbegehren gegen den Umstand, im Alter von neun Jahren von einer Diktatur eingemauert worden zu sein. Ich wollte mein Leben nicht in der Enge eines stark reglementierten Staatsgeheges fristen. Aber auch das Kollektivierungsgebot jener, die an die Möglichkeiten einer besseren DDR glaubten – Wir bleiben hier! -, ließ ich nicht gelten. Es maßte sich an, in meine ureigene Lebensentscheidung hineinreden zu dürfen und deklarierte mich zum entbehrlichen Hobelspan des Fortschritts.
Viel später erst entdeckte ich eine Rede, die für mich zum politisch-philosophischen Schlüsseltext im Verständnis deutscher Diktaturspätschäden wurde: Hannah Arendts Lessing – Preis – Rede „Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten“, gehalten am 28. September 1959 in Hamburg, meiner späteren Wahlheimat. Und darin eine Passage, die es konzise auf den Begriff brachte: „Von allen spezifischen Freiheiten, die uns in den Sinn kommen mögen, wenn wir das Wort Freiheit hören, ist die Bewegungsfreiheit nicht nur die historisch älteste, sondern auch die elementarste; das Aufbrechen-Können, wohin man will, ist die ursprünglichste Gebärde des Freiseins, wie umgekehrt die Einschränkung der Bewegungsfreiheit seit eh und je die Vorbedingung der Versklavung war.“
Dieser Befund reicht von den Leibeigenschaftsansprüchen des realsozialistischen Hofpöbels bis zu den neuerdings zirkulierenden völkischen Festungsphantasien.
Ich spreche für mich, aber ich bin kein Einzelfall. Ein volkstümliches Lexikon unterrichtet mich, dass zwischen Bau und Fall der Mauer etwa 600.000 Menschen die DDR verlassen haben. 383.000 per Ausreiseantrag; diese Leute, darunter ich, hätten das Herkunftsland legal verlassen, behauptet das volksnahe Lexikon, und ich stutze. Was für ein Legalitätsbegriff fand hier Verwendung? Etwas Unberechenbares zwischen Willkür, Sadismus, Geschäftssinn und Parteihuld entschied über einen Ausreiseantrag, und nicht kodifiziertes Recht. 222.000 waren der DDR durch lebensgefährliche Flucht, Freikauf oder bei der Gelegenheit eines Verwandtenbesuchs entraten.
Gerade schwillt das Deutungsgetöse um friedliche Revolution und ein Phantom namens ostdeutsche Identität, um vorgebliche Massenheimatlosigkeit im Beitrittsgebiet und durch Wiederholung nicht wahrer werdende Kolonisierungsvorwürfe gegenüber westdeutschen Eliten wieder an. Und ich frage mich gelegentlich, welche Bedeutung unserer Rolle und Lebensleistung im gesamtdeutschen Mentalitätsstoffwechsel zukommen mag. Wir haben auf höchst unterschiedliche Weise das Weite gesucht und die Initiative für das eigene Leben ergriffen. Ob etwas glückt oder scheitert, liegt nie allein bei einem selbst. Mich mit dem Monstrum Ausreiseantrag herumgeschlagen zu haben, begreife ich, bei allem Verschleiß von Lebenszeit und -energien, der damit einhergegangen sein mochte, als die Freiheitstatsache meines Lebens schlechthin. Es ist die elementare Erfahrung, dass billige Freiheit nichts wert ist. Die Bruchlinie, von der ich jetzt rede, ist übrigens nicht mit der ehemaligen innerdeutschen Grenze identisch. Die existentielle Logik einer Biografie konnte auch lauten: Ich bleibe hier. Ich, nicht wir. Das trifft für einige meiner besten Freunde zu. Etwas ganz anderes war es, sich mit den Wonnen der Gewöhnlichkeit und der fürsorglichen Verwahrung in der Diktatur zu arrangieren und daraus einen Imperativ abzuleiten.
Aus Gründen der semantischen Tiefenschärfe habe ich mich nie als Flüchtling oder Schriftsteller im Exil rubriziert. Was für Privilegien, nicht die Sprache wechseln zu müssen und sofort in einer der begehrtesten Staatsbürgerschaften der Welt anzukommen!
Sprache ist allemal ein hellsichtiges Weltmedium und ein Speicher kollektiver Wahrnehmungsanomalien. Über meinesgleichen heißt es bis heute, in Ost und West: Abgehauen! Ein pejorativ aufgeladener Bedeutungshof. Wer abhaut, lässt etwas im Stich, handelt ehrlos, ist ein Volksverräter. Ich muss daran denken, dass es nach dem Krieg 57 Jahre dauerte, bis Wehrmachtsdeserteure, die einer im Auftrag eines verbrecherischen Regimes agierenden Armee unter Lebensgefahr den Rücken gekehrt hatten, juristisch rehabilitiert wurden.
Noch ein verräterischer Begriff, der bis heute zirkuliert: Republikflucht. Wäre nicht Diktaturflucht angemessen?
Im Herbst 1989 lebte und arbeitete ich in Loccum, auf dem Gelände des einstigen Zisterzienserklosters. Tiefe westdeutsche Provinz, hinter dem Steinhuder Meer. Dort verfolgte ich, was in Leipzig und anderswo geschah. Ich erinnere mich genau, wie perplex ich war, als ich hörte, was die friedliche Revolution skandierte, wenn sie Parteizentralen oder Stasiburgen passierte: Schämt euch! Schämt euch! Als vermutete sie hinter den Fassaden ungezogene Kinder, die endlich wieder lieb sein sollten, und nicht Funktionäre und Schergen einer Diktatur, die über Jahrzehnte Leben zersetzt und Menschen drangsaliert hatten.
In den folgenden Jahren lud mich, einen relativ frisch abgehauenen Schriftsteller mit doppeldeutschen Erfahrungen, die im Kloster Loccum ansässige Evangelische Akademie wiederholt zu Vorträgen oder Lesungen ein, die neuen deutschen Fragen betreffend. Einmal, ich hatte meine These vorgestellt, dass die vielgerühmte ostdeutsche Herzlichkeit vor allem instrumentell war, eine Art Währung, dort wo einem Geld wenig oder nichts nützte. Mit Herzlichkeit kaufte man sich in den lebenswichtigen Kreislauf der Beziehungen ein. Da warf mir, den Begriff habe ich nie wieder vergessen, ein Teilnehmer aus dem Beitrittsgebiet bebend Knospenfrevel! vor. Heute staune ich, auf welchem metaphorischen Niveau damals über deutsche Zustände gestritten wurde.
Meine Vermutung, was das Schlimmste an der DDR gewesen sei, auch im Vergleich zur Nazidiktatur: die schiere Dauer. Von 1933 bis 1989 waren alle Vorstellungen von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Zivilgesellschaft im Bewusstsein der Bevölkerung verblasst und ausgelöscht worden; das galt zumindest für das Gros. Für meinen Vater, beispielsweise, brachen die finsteren Zeiten mit dreizehn an, und als sie endeten, war er neunundsechzig Jahre alt.
Zum Herbst 2019 kündigt die Evangelische Akademie in Hamburg eine zweiteilige Veranstaltung zum ostdeutschen Daseinselend dieser Tage an. Vom Beitritt zur Heimatlosigkeit. Und versteigt sich sogar dazu, eine Parallele von Migrantenschicksalen und mitteldeutschen Demütigungserfahrungen durch westdeutsche Eliten zu insinuieren. Philosophisch gesprochen: ein Kategorienfehler. Als ich Anfang der Achtziger nach Hamburg kam, wurde ich wiederholt gefragt, wie ich nach Deutschland gekommen sei. Wo mögen die Neugierigen damals Leipzig vermutet haben?
Wenn ich etwas zu sagen hätte, und ich sage es jetzt, schlüge ich allen Evangelischen Akademien in Deutschland eine konzertierte Aktion vor: eine Einladung an Interessierte, ob Abgehauene, Zuhause- oder Zurückgebliebene, sich gemeinsamen der Lektüre von Hannah Arendts Lessingpreisrede zu widmen. Neben einer luziden Analyse der „finsteren Zeiten“ (Brecht) einer Diktatur, wo Wärme resp. Herzlichkeit an die Stelle des Lichts tritt und eine schreckliche Weltlosigkeit die Insassen zu Parias werden lässt, zeigt Arendt in ihrer Rede ein politisches Konzept von Freundschaft auf, wie es Lessing entwickelt hat. Und wie ein Erkenntnisschock trafen mich schon beim ersten Lesen jene Sätze, die eigene diffuse Gedanken auf den Punkt brachten: „Die Menschlichkeit der Erniedrigten und Beleidigten hat die Stunde der Befreiung noch niemals auch nur um eine Minute überlebt. Das heißt nicht, dass sie nichts sei, sie macht in der Tat die Erniedrigung tragbar; aber es heißt, dass sie politisch schlechterdings irrelevant ist.“
Ein knappes Jahr, nachdem Hannah Arendt ihre Lessingpreisrede in Hamburg gehalten hatte, sorgte ein Disput im NDR für große öffentliche Erregung. Im Gespräch mit Thilo Koch beharrte Karl Jaspers darauf, dass die Freiheit Vorrang vor der Wiedervereinigung habe ( abgedruckt in der FAZ vom 17.8.1960). Der Kommentar von Hannah Arendt fiel entschieden aus: „…der größte Schlag, der bisher gegen den deutschen Nationalismus geführt worden sei…und er könnte zu einer klaren Scheidung der Lager führen, wobei sich schnell herausstellen wird, dass die sogenannten Rechten und die sogenannten Linken in dem gleichen Lager sind.“ Seit dem Fall der Mauer habe ich beobachtet, wie sich unter Westdeutschen eine Haltung etablierte, die sich selbst wohl als Ausdruck von Empathie und Noblesse verstand: Wir mögen nicht das Verhalten von Leuten beurteilen, in deren Lage wir nie waren. Auch dazu findet sich bei Hannah Arendt Erhellendes. In einer Vorlesung zu Fragen der Ethik heißt es sinngemäß: Mit der Indifferenz, der weit verbreiteten Tendenz, das Urteilen überhaupt zu verweigern, fange das Böse an.
1979 hielt ich, als Theologiestudent im homiletischen Seminar, meine allererste Predigt, von der Kanzel der Peterskirche zu Leipzig. Jeremia 29, Vers 7: Suchet der Stadt Bestes, dahin ich euch habe wegführen lassen, und betet für sie zum HERRN; denn wenn’s ihr wohl geht, so geht’s auch euch wohl.“ Eine bedenkenswerte Aufforderung an Exilierte, aus ihrer angestammten Lebenswelt Vertriebe, sich nicht in Abschottung, Lamento und Larmoyanz einzurichten.
Am 9. Oktober 2019 wird voraussichtlich Gregor Gysi in der Leipziger Peterskirche sprechen und sich als Tribun ostdeutscher Interessen feiern lassen, so wie es die ostdeutsche Volkspartei AfD samt ihrer Flügelstürmer auf ihre Weise tut.
Dass die Häutung der SED / PDS zur Partei Die Linke so geschmeidig vonstatten ging und große Teile des alten SED – Parteivermögens nie wieder aufgetaucht sind – von wegen Volkseigentum! -, gehört unstrittig zur Lebensleistung von Gregor Gysi, die niemand schmälern sollte.
Wenn Genosse Gysi am 9. Oktober ausgeredet hat, singt in der Leipziger Peterskirche, so ist es verheißen, ein Bürgerchor: Alle Menschen werden Brüder.
Der Dichter Rainer Malkowski notierte einst den Aphorismus: „Seit Kain und Abel wissen wir, dass alle Menschen Brüder sind.“ Und Hannah Arendt sagt gegen Ende ihrer Rede „Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten“ lakonisch über Lessing: „Er wollte vieler Menschen Freund, aber keines Menschen Bruder sein.“