Übersicht Samstag 27.02.2016

Aus „Bagatellen ohne Tonart“

Blondierter Arier und Rauchmatjes

Blondierter Arier und Rauchmatjesfilet

Je länger N.N. darüber nachdachte, warum ihm dieses Fischgeschäft, ein graues Zitat aus seiner Kindheit, in der Nähe des Barmbeker Bahnhofes, wo er gelegentlich vorbeikam, nicht schon früher aufgefallen war, desto rätselhafter wurde ihm dieser Umstand. Falls man die der Straße zugewandte und zur Blindheit neigende Scheibe überhaupt ein Schaufenster nennen wollte, so regierte ein Design des ornamentalen Mangels und der Abwesenheit, von Winterlicht matt koloriert, die Auslage dahinter. Ein trauriger Vorwurf an jeden Passanten. Erst als N.N., von einem diffusen Affekt aus Schuldbewußtsein und Neugier gedrängt, schon in den Laden eingetreten war, fing er zu überlegen an, ob es überhaupt seine Absicht gewesen sei, Fisch zu kaufen. Der monumentale Tresen, wächserne Kunstblumenarrangements und eine antiquierte Registrierkasse, das massive Bassin, in dem ein paar Karpfen träge dahindümpelten, kurz vor dem finalen Hieb, der Geruch nach Nixe, Tod und einem leicht perversen Bademeister, von Fischleid eingetrübte Kacheln und Fliesen. Wie früher!, schoß es N.N. durch den Sinn, und ein Wirbel aus Panik und Jubel griff seine Zurechnungsfähigkeit an. Schon hörte N.N., verwundert, seine Stimme, wie sie Heilbutt und Wels und Matjes bei der Verkäuferin orderte. Inzwischen war, fast geräuschlos und von N.N. zuerst unbemerkt, ein weiterer Kunde in dem Fischgeschäft eingetroffen und beobachtete aufmerksam, was geschah. Ein hagerer Mann in N.N.s Alter, leicht gebeugt, in einem zwischen Braun und Schwarz changierenden Übergangsmantel, der für die Witterung ein wenig zu dünn wirkte. Die Haltung des Wartenden hätte sich als eine Pose taktischer Devotion lesen lassen können, vermutete N.N. später. Er liebe Fisch, doch so einen Einkauf könnte er sich, von seiner Stütze, nie leisten, sagte der Mann halblaut, während N.N. seine Rechnung beglich. N.N. schaute genauer hin. Die Erscheinung des Mannes mochte von einer gewissen Ärmlichkeit sein, ungepflegt aber oder gar verwahrlost war sie nicht. Jetzt erst fielen N.N. die hell gefärbten Haare auf. Ein Rauchmatjesfilet, sagte der Mann, demonstrativ bescheiden, zu der Verkäuferin; es war fast ein Flüstern. Das sei es, was er sich einmal in der Woche leiste, ergänzte der Mann, in N.N.s Richtung. Den soeben getätigten opulenten Einkauf kurz taxierend und vom eigenen Wohlstand beschämt, forderte N.N. die Verkäuferin und mußmaßlich auch Inhaberin des Fischgeschäfts auf, ein zweites Rauchmatjesfilet dazuzulegen, und er bezahlte beide. Zwei Euro. Der so Beschenkte bedankte sich überschwenglich und wich nicht von N.N.s Seite. Kaum wieder auf dem mit Eisschuppen überzogenen Bürgersteig angelangt, erkundigte sich der Mann mit den beiden Rauchmatjefilets bei N.N., ob er seine Ansicht teilte, daß es eine Schande sei, wenn Deutschland jemanden wie ihn in solche Armut stoße. Und daß sich niemand über die allgemeine Verwahrlosung wundern müsse, solange keiner bereit sei, für Deutschlands Ehre in den Krieg zu ziehen. N.N. musterte den blondierten Schopf seines anhänglichen Begleiters und überlegte kurz, ob er einem Fischtrickbetrüger aufgesessen sei, der seinen Opfern vor dem Laden auflauerte, um ihnen dann mit dem genau kalkulierten Auftritt Matjesfilets abzupressen. Dann verwarf er die Hypothese rasch und beschleunigte seine Schritte. Der Andere ließ sich nicht abschütteln. Er sei Dachdecker von Beruf und habe jahrelang gutes Geld verdient. Aber jeder Deutsche arbeite in seinem eigenen Land jeden Tag zwei Stunden länger als irgendein dahergelaufener Araber, der sich währenddessen auf einen Teppich lümmele und bete. Das garantiere die Gewerkschaft. N.N. schaute sich nicht mehr nach dem Mann um und zog abermals das Tempo an, so gut es der glatte Weg erlaubte; ohne Erfolg. Die Stimme saß ihm im Nacken. Später habe er eine günstige Gelegenheit genutzt und sei als Monteur für eine Telekommunikationsfirma in ganz Europa unterwegs gewesen. Damals habe er fast zweihunderttausend Mark auf einem Konto gehabt. Daß die Jugend nicht bereit sei, für Deutschland zu kämpfen, richte das Land zugrunde. Was er denn mit seinem ersparten Geld angefangen habe und wo es geblieben sei, wollte N.N., bereits ein wenig außer Atem, wissen. Sein größter Fehler sei eine Frau gewesen, antwortete der Blondierte mit den beiden Rauchmatjesfilets, bevor er abrupt die Straßenseite wechselte und von N.N. abließ, sie habe ihn zuerst betrogen und dann völlig ausgeraubt.