Übersicht Dienstag 01.12.2015

Dezember

Taschenbuch 2010 / Roman eines Jahres

Johann Sebastian Bach war, wie es Dokumentenfunde belegen, der riskanten Finanzanlage nicht abhold: er hat mit Anteilen am sächsischen Silberbergwerk in Freiburg spekuliert. 1741 und 1746 habe der Thomaskantor je einen sogenannten Kux erworben, dessen Wert heute einem mittleren vierstelligen Eurobetrag entspreche, hört man aus bestens informierten Gewandhauskreisen. Die gute finanzielle Situation seines letzten Lebensjahrzehnts verdankte Bach seinem Glück als Spekulant. „Er läßt es den Aufrichtigen gelingen und beschirmt die Frommen.“ (Sprüche Salomos 2.7)

Etwas ist faul im Reiche Utopia. Es gärt und spukt in manchen besorgten Köpfen. Alte, aus Gewohnheit subversive Maulwürfe wühlen brav, und wir stolpern im Feuilleton über frische Hügel. Kulturpessimismus ist Revolution für Faule, resümmiert Peter Glaser bündig und treffend, indem er Benns Diktum variiert, daß der Pessimismus der Strandkorb der Unproduktiven sei. Schirrmacher, Braun, Staeck, beispielsweise. „Digitale Sackgasse“, diese „Aldi-Version eines Bocksgesangs“ (P.Glaser), macht kurzen Prozeß mit der Humanität im Zeitalter des Internets. Aus und vorbei. Nobles Wehleid, rhetorisch fein ziseliert und nur gelegentlich von einem dialektischen Würgereiz unterbrochen, so kommt Volker Brauns Zukunftsrede daher („Die größere Lust sparen wir den Enkeln auf“); feines Revolutionsdesign aus einem Manufactum – Gedankenhaushalt. In diesen Lustpfandbriefen aus der Privatbank Hölderlin & Braun liest man dann Sätze wie: „Zum Land Utopia wollen wir nicht einmal diplomatische Beziehungen pflegen.“ Oder, dialektisch monströs, durch Genitivketten in Zivil gesichert und mit einem möglichen Straftatbestand von morgen kokettierend: „Ich habe Zukunft erlebt, die von gestern war, eine höhere Lebensform mit niedrigerem Standard, Gemeineigentum ohne Verfügungsgewalt. Verwerfung der Gegend der Liebe im Sachzwang der Arbeit für morgen; die Republikflucht der Utopien in die Messer der Konsumschlacht.“ Ob Utopisten oder Dystopisten: Sie reden gern Gespenstern das Wort. Ein Gespenst geht um in Europa…Wieso sollte das Auftauchen von Untoten, von Wiedergängern mit Rachegelüsten oder Furien einer regressiven Verklärung je etwas Gutes bedeutet haben? Indem er die Befunde einer synoptischen Lektüre von Hamlet und Kommunistischem Manifest notierte und kommentierte, hat Alan Posener einmal hellsichtig auf den Ursprung der Utopiebildung hingewiesen: sentimentale und affektive Regression angesichts einer radikal veränderten Realität; Racheabsichten gegenüber einer als bedrohlich fremd empfundenen Moderne. (SINN UND FORM 1993 Heft 6) Vielleicht, prekär genug, setzte ich meine Hoffnung auf eine Person, den Anderen. Oder auf ein Kind. Aber doch nicht auf ein Gespenst.

Weihnachtskonzert in Groß Flottbek. Cantus fons, acht ehemalige Kruzianer aus Dresden, und anima mea, fünf Hamburger Frauen. Teils Kammerchor, teils Solistenensemble. Während ich zuhöre, geht mir George Steiners anthropologische Vermutung durch den Kopf, unssere Zentralvokabel ‚Person‘ leite sich von personare ab, hindurchtönen. Dann, bei Max Regers „Unser lieber Frauen Traum“ für sechsstimmigen Chor, sackt eine alte Dame in der ersten Kirchenbank zusammen; Infarktverdacht. Wenige Augenblicke vor Konzertbeginn habe ich sie kommen sehen, stark gebeugt und insektenhaft trippelnd, und sie drängte energisch in die erste Reihe. Eine von Beklommenheit gedehnte Schrecksekunde, bis der Rettungswagen eintrifft; und wer hätte nicht an die Möglichkeit des eigenen Endes gedacht, an die Gewißheit.
Mindestlohn für Caliban, und Hochschulreife.
Mögen die Konfessionen, aus verständlichen Gründen, auf je eigene Weise das Geschäft der Simplifikation betreiben: daß es so kompliziert ist, nimmt mich besonders für das Christentum ein. Allein die Fülle der neutestamentlichen Perspektiven! Die so unterschiedlichen Erzähltemperamente der Evangelisten und ihre Motivbehandlung, zwischen Messiasgeheimnis und genealogischer Girlande. Die narrativen Fragmentierungen und Wiederholungen, das kaleidoskopische Spiel mit Episoden, Tableaus und Lichtgerüsten. Der paulinische Scharfsinn und die pseudopaulinischen Ornamente. Petrus, dieser morsche Felsen, und der Ursprung der Ironie. Jesus Christus erscheint, in verschiedenen Rollen und Facetten zur Sprache gebracht, weil diejenigen, die ihn trafen oder die er traf, von ihren Erfahrungen erzählen mußten, um sie sich selbst und anderen verständlich zu machen. Wäre man vermessen genug, spräche man von einem poetologischen Gottesbeweis. Immerhin hat Jorge Luis Borges einen ornithologischen Gottesbeweis formuliert. Und dabei habe ich noch gar nicht von den Psalmen und der jüdischen Bibel gesprochen.
James Wood, Literaturwissenschaftler mit feinem Gespür für religiöse Infiltrate und Fermentationsprozesse, in einem Vortrag über „Niels Lyhne“ von Jens Peter Jacobsen: „In a fatherless world the son is the proxy of nothing.“ Einer, der als Kind selbst einmal ein Messer nach seinem Vater geworfen hat, wählt später als Pseudonym den Namen des Rächers aus Alexander Kasbegis Roman „Der Vatermord“: Koba, der Unbeugsame. Auf Russisch wird daraus Stalin.
Beim Durchblättern der Literaturbeilage meiner Süddeutschen stoße ich sofort auf Beispiele einer interredaktionellen Kuschelpraxis; ein schöner Adventsbrauch. Man kennt sich, man verlegt sich, man bespricht sich. Man weiß ja nie, in wessen Hände man sonst fällt. Da hat ein Kollege aus der ZEIT-Redaktion „fast einen Roman“ geschrieben und dem Aufbau Verlag zum Druck anvertraut; oho, was für eine leichtfüßige Prosa, nur zwei klitzekleine Einwände tun not. Kritische Gefälligkeiten, die man einem Kollegen eben schuldig ist. Oder ‚Wie herrlich ist doch das Gedruckte‘; da schäumt eine Berufsleserin einem Berufsleser, der soeben die Konfessionen eines Lektüreabhängigen vorgelegt hat, mit ihrem Lob ein. Die Rede ist von dem coolen rheinischen Buchflüsterer H.W., Multimandatsträger in den Vorständen dess Literaturbetriebes, Rundfunkschaffender offenen Blickes, da wo die Kollegen nur Buchstaben sehen. Leichtfüßigkeit hatten wir schon; also sagen wir doch: eine Prosa von trainierter Leichtigkeit. H.W., heute Großkritiker, begann übrigens einst, die befreundete Rezensentin erwähnt es erschaudernd, als Schriftsteller – „wagte sich selbst als Schriftsteller auf die freie Wildbahn“, um den verräterischen Wortlaut zu zitieren. Diesen jugendlichen, wiewohl bald schlau revidierten Wagemut eines Kritikerkollegen honoriert die Literaturbeilage der Süddeutschen noch heute, indem sie seine vermischten Schriften „Kann man Bücher lieben?“ unter der Rubrik LITERATUR, und nicht SACHBUCH, preist. Freie Wildbahn? Rezensentengehege; Buchkontakthof; Frankfurter oder Leipziger Zone. Literaturbeilage; im DDR-Küchenlatein gab es, merkwürdige Vokabel, die Sättigungsbeilage. Gelegentlich ist die Distanz kurz, von der Geschmacklosigkeit bis zum Brechreiz.
Hamlet in Hamburg. Ein Kritiker hält eine Hamlet-Aufführung am Thalia Theater für dreifach mißlungen – eine Neuübersetzung von „comicblasenhafter Dürftigkeit“ (Günter Senkel / Feridun Zaimoglu); eine buddhistisch verblasene Inszenierung (Luk Perceval); Publikumsindolenz – und veröffentlicht einen Verriß. Thalia-Intendant Lux reagiert mit einem offenen Brief und wirft dem Rezensenten Alan Posener nicht weniger als „Volksverhetzung“, „geistige Brandstiftung“ und „Verunglimpfung anderer Religionen“ vor. Alan Posener, 1949 in London geboren, Sohn des Architekturhistorikers Julius P., eines deutschen Juden, der vor den Nationalsozialisten fliehen mußte, kontert in einem Blog, gebildet und souverän, und beruft sich auf Heinrich Heine und seine Schrift „Shakespeares Mädchen und Frauen“. Inzwischen scheint Herrn Lux sein leichtfertiger Umgang mit den wohlfeilen Begriffen von den Wühltischen der Trivialaufklärung selber peinlich geworden zu sein, denn er hat dem Kritiker angeboten, „das Kriegsbeil zu begraben“. Eine Vorbedingung macht Alan Posener allerdings dafür geltend: Weil der offene Brief insinuiert habe, seine, Poseners, Rezension gleiche einem Pogromaufruf, müsse sich Lux entschuldigen: bei den tatsächlichen Opfern der Nazis, die so nachträglich verhöhnt und deren Verfolgung dadurch banalisiert würden. Sich selbst nimmt Alan Posener ausdrücklich aus: Er bedürfe der Entschuldigung nicht, da er sich keinesfalls als „Opfer der zweiten Generation“ empfinde. „…., im Gegenteil: hätten die Nazis meinen Vater nicht aus Deutschland verjagt, hätte er nie meine Mutter getroffen und nie mich gezeugt. Ich verdanke Hitler gewissermaßen mein Leben.“ Ich lache kurz auf, als ich das lese; dann wird meine Begeisterung über diese Pointe, wie über fast jede Pointe, schal. So subtil sie auch immer gerät, eine Pointe kann nie völlig verhehlen, daß sie auch der Ausdruck einer Beifallshörigkeit ist, einer Gefallsucht.
Gestern, gegen vierzehn Uhr, ist Roman Abramowitschs einhundertunddreiundsechzig Meter lange Yacht Eclipse, die en passant flüchtig zu bewundern jeder Teilnehmer an einer Rundfahrt durch den Hamburger Hafen lautstark aufgefordert war, ausgelaufen. Nachbesserungswünsche des Eigners und das Pokern mit der Werft ‚Blohm und Voss‘ um einen Rabatt von achtzig Millionen Euro hatten die Auslieferung der Luxusyacht (geschätzter Wert: vierhundert bis achthundert Millionen Euro) um ein Jahr verzögert.
„1378 (km)“: Heute stellt die Hochschule für Gestaltung Karlsruhe ein von ihr entwickeltes Mauerschützen-Computerspiel ins Netz. Unbewaffneter Republikflüchtling oder Grenzsoldat – der Spieler hat die Wahl. Als das famose Spiel, dem Ego – Shooter – Prinzip verpflichtet, am Tag der Deutschen Einheit der Öffentlichkeit präsentiert werden sollte, kam es zu Protesten. „Wer das Spiel gesehen hat, kann die Kritik daran nicht verstehen“, kommentierte Hochschulsprecher Klaus Heid die ihm unbegreifliche Erregung. Gespenster, Gespenster. Die Utopie wandert, grenzenlos enttäuscht, ins Virtuelle aus.
In Prag unterziehen die zuständigen Behörden Asylbewerber, die sich darauf berufen, in ihren Heimatländern wegen ihrer Homosexualität verfolgt zu werden, einem Erektionstest. Die Antragsteller dürfen sich bei einer Peniskontrolle vor einem laufenden Pornostreifen mit Heteros nicht erwischen lassen.
Gern irrte ich mich, doch heute abend wird vermutlich der Weltklimagipfel in Cancun gescheitert sein.
Der Jahrgang meines Vaters. Dave Brubeck, Farmersohn aus Kalifornien, sollte eigentlich Tierarzt werden. Kürzlich feierte er seinen neunzigsten Geburtstag, und wenige Tage zuvor spielte er im Blue Note auf.
Im katholischen Brüderkrankenhaus St. Josef zu Paderborn entdeckt ein jüdischer Chirurg am rechten Oberarm eines bereits anästhesierten Patienten, eines sechsunddreißigjährigen LKW-Fahrers, ein großes Tattoo: Reichsadler und Hakenkreuz. Daraufhin erklärt der Arzt, es sei ihm unmöglich, diesen Mann zu operieren (an der Schilddrüse, in diesem Fall), und er bittet seine Chefärztin, für ihn einzuspringen. So geschieht es, weder zum Nachteil noch zum Schaden des narkotisierten Tätowierten. Als die Frau des LKW-Fahrers davon erfährt, ist sie empört und sucht Rechtsbeistand. Busenfreund und Pöbelanwalt BILD verlangt, diesem Arzt müsse die Approbation entzogen werden.
Geboren am 19. Dezember: Jean Genet (1910), Fürsorgezögling und Sträfling, „Kommödiant und Märtyrer“ (Sartre), Sohn eines erst kürzlich identifizierten Monsieur Blanc (unbeschriebenes Blatt) und einer Prostituierten. Auf die Frage eines Mitglieds der Akademie francaise, wo er denn sein exzellentes Französisch gelernt habe, soll Genet, der sieben Jahre eine Dorfschule besucht hat, geantwortet haben: Von der Grammatik. Jürgen Fuchs (1950), Schriftsteller und Sozialpsychologe aus Jena, dem die DDR mit all ihrer Bösartigkeit nach dem Leben trachtete. Weil er spröde Zeugnis ablegte und unbedingt beim Namen genannt wissen wollte, was der Fall gewesen ist. Jürgen Fuchs starb mit neunundvierzig Jahren an Leukämie. „Beibringung radioaktiver Stoffe“, so hieß die einschlägige Methode aus dem Zersetzungsrepertoire, die einst aus Gründen der Staatssicherheit für jemanden wie Jürgen Fuchs vorgesehen war. Manche halten es noch heute für angezeigt, solche Verhältnisse als kommod zu apostrophieren. Jürgen Fuchs – oder war es Hans Joachim Schädlich – und Hans Bender bürgten vor langer Zeit für mich, daß ich Mitglied im bundesdeutschen P.E.N. – Zentrum würde. Eine Freude und eine Ehre, aber das war in einem anderen Jahrtausend und in einem anderen Land. 1996 haben wir, alle Vier, den Schriftstellerclub verlassen, weil wir es, auf je eigene Weise, nicht länger ertrugen, wie die Lautsprecher des Zeitgeistes, die im Verein das Sagen hatten, mit den durch den unverhofften Mauerfall malträtierten Kollegen aus dem Beitrittsgebiet umgesprungen sind: voll schmieriger Fürsorglichkeit, gönnerhafter Sympathie und eines undifferenzierten Willkommenheißens, das mit herzlicher Herablassung gesprenkelt war. Wer je den berühmten Romancier K. Staeck, das leibhaftige Menetekel mit Aktualisierungsautomatik und narzißtischem Editionsdesign F. Schorlemmer und den wegen seiner subtilen Lyrik geschätzten M. Bissinger, hochmögende P.E.N.- Mitglieder alle drei, aus der Nähe beim Intrigieren und Ränkeschmieden zu beobachten nicht umhinkam, suchte besser das Weite, um nicht selber Schaden zu nehmen. Über Italo Svevo (1861) sprechen wir im nächsten Jahr, anläßlich seines einhundertfünfzigsten Geburtstags.
Hamburg, ein Wintermärchen. Schnee für alle. Für das, was ich heute von Nathan Niedlich im Postkasten vorfinde, genügt ein einfaches Briefporto.

Blondierter Arier und Rauchmatjesfilet
Je länger N.N. darüber nachdachte, warum ihm dieses Fischgeschäft, ein graues Zitat aus seiner Kindheit, in der Nähe des Barmbeker Bahnhofes, wo er gelegentlich vorbeikam, nicht schon früher aufgefallen war, desto rätselhafter wurde ihm dieser Umstand. Falls man die der Straße zugewandte und zur Blindheit neigende Scheibe überhaupt ein Schaufenster nennen wollte, so regierte ein Design des ornamentalen Mangels und der Abwesenheit, von Winterlicht matt koloriert, die Auslage dahinter. Ein trauriger Vorwurf an jeden Passanten. Erst als N.N., von einem diffusen Affekt aus Schuldbewußtsein und Neugier gedrängt, schon in den Laden eingetreten war, fing er zu überlegen an, ob es überhaupt seine Absicht gewesen sei, Fisch zu kaufen. Der monumentale Tresen, wächserne Kunstblumenarrangements und eine antiquierte Registrierkasse, das massive Bassin, in dem ein paar Karpfen träge dahindümpelten, kurz vor dem finalen Hieb, der Geruch nach Nixe, Tod und einem leicht perversen Bademeister, von Fischleid eingetrübte Kacheln und Fliesen. Wie früher!, schoß es N.N. durch den Sinn, und ein Wirbel aus Panik und Jubel griff seine Zurechnungsfähigkeit an. Schon hörte N.N., verwundert, seine Stimme, wie sie Heilbutt und Wels und Matjes bei der Verkäuferin orderte. Inzwischen war, fast geräuschlos und von N.N. zuerst unbemerkt, ein weiterer Kunde in dem Fischgeschäft eingetroffen und beobachtete aufmerksam, was geschah. Ein hagerer Mann in N.N.s Alter, leicht gebeugt, in einem zwischen Braun und Schwarz changierenden Übergangsmantel, der für die Witterung ein wenig zu dünn wirkte. Die Haltung des Wartenden hätte sich als eine Pose taktischer Devotion lesen lassen können, vermutete N.N. später. Er liebe Fisch, doch so einen Einkauf könnte er sich, von seiner Stütze, nie leisten, sagte der Mann halblaut, während N.N. seine Rechnung beglich. N.N. schaute genauer hin. Die Erscheinung des Mannes mochte von einer gewissen Ärmlichkeit sein, ungepflegt aber oder gar verwahrlost war sie nicht. Jetzt erst fielen N.N. die hell gefärbten Haare auf. Ein Rauchmatjesfilet, sagte der Mann, demonstrativ bescheiden, zu der Verkäuferin; es war fast ein Flüstern. Das sei es, was er sich einmal in der Woche leiste, ergänzte der Mann, in N.N.s Richtung. Den soeben getätigten opulenten Einkauf kurz taxierend und vom eigenen Wohlstand beschämt, forderte N.N. die Verkäuferin und mußmaßlich auch Inhaberin des Fischgeschäfts auf, ein zweites Rauchmatjesfilet dazuzulegen, und er bezahlte beide. Zwei Euro. Der so Beschenkte bedankte sich überschwenglich und wich nicht von N.N.s Seite. Kaum wieder auf dem mit Eisschuppen überzogenen Bürgersteig angelangt, erkundigte sich der Mann mit den beiden Rauchmatjefilets bei N.N., ob er seine Ansicht teilte, daß es eine Schande sei, wenn Deutschland jemanden wie ihn in solche Armut stoße. Und daß sich niemand über die allgemeine Verwahrlosung wundern müsse, solange keiner bereit sei, für Deutschlands Ehre in den Krieg zu ziehen. N.N. musterte den blondierten Schopf seines anhänglichen Begleiters und überlegte kurz, ob er einem Fischtrickbetrüger aufgesessen sei, der seinen Opfern vor dem Laden auflauerte, um ihnen dann mit dem genau kalkulierten Auftritt Matjesfilets abzupressen. Dann verwarf er die Hypothese rasch und beschleunigte seine Schritte. Der Andere ließ sich nicht abschütteln. Er sei Dachdecker von Beruf und habe jahrelang gutes Geld verdient. Aber jeder Deutsche arbeite in seinem eigenen Land jeden Tag zwei Stunden länger als irgendein dahergelaufener Araber, der sich währenddessen auf einen Teppich lümmele und bete. Das garantiere die Gewerkschaft. N.N. schaute sich nicht mehr nach dem Mann um und zog abermals das Tempo an, so gut es der glatte Weg erlaubte; ohne Erfolg. Die Stimme saß ihm im Nacken. Später habe er eine günstige Gelegenheit genutzt und sei als Monteur für eine Telekommunikationsfirma in ganz Europa unterwegs gewesen. Damals habe er fast zweihunderttausend Mark auf einem Konto gehabt. Daß die Jugend nicht bereit sei, für Deutschland zu kämpfen, richte das Land zugrunde. Was er denn mit seinem ersparten Geld angefangen habe und wo es geblieben sei, wollte N.N., bereits ein wenig außer Atem, wissen. Sein größter Fehler sei eine Frau gewesen, antwortete der Blondierte mit den beiden Rauchmatjesfilets, bevor er abrupt die Straßenseite wechselte und von N.N. abließ, sie habe ihn zuerst betrogen und dann völlig ausgeraubt.


Weicher Auftakt, schöner Schmelz. Helles Goldgelb, im Bukett Lindenblüten, Honigmelone und dezente Hefenoten. Melodisches Glück und melancholische Nachdenklichkeit, zart dargeboten. Witz und Brillanz im Finale, triumphierend. Geschliffenes Tannin, lange ausklingend. Zarte Anklänge von Vanille und Toffee verschmelzen mit Noten von Waldbeeren und Gewürzen; äußerst weicher Ansatz mit aromatischem Tiefgang. Lakonisch genial kontrastierende a-moll-Gedanken. In Chromatik schwelgende pianissimo-Modulationen. Mineralische Struktur von hoher Konzentration. Leckeres Erdbeersaftfinale, butterweich im Abgang. Die Jargons von Sommeliers und Musikkritikern ähneln sich verblüffend. Warum bespricht Joachim Kaiser nicht gelegentlich alten Rotwein?
Aus dem P.E.N. tritt man nicht aus, sagt der Schriftsteller F.C. Delius, und sei es nur wegen der notwendigen Arbeit des Writers – In – Prison – Committees. Der Satz ist nicht gegen mich und meine Entscheidung gerichtet, er begründet vielmehr, daß und warum F.C. Delius, der damals unter den ideologischen Mehrheitsverhältnissen nicht weniger gelitten hat als ich, den Club nicht verlassen hat. Schon wahr. Nicht daß ich keinen Schmerz gespürt und keinen Verlust empfunden hätte. Mein Verhängnis ist es gewesen, daß ich zu jener Zeit ein Amt im Präsidium des bundesdeutschen P.E.N.-Zentrums innehatte und die schmutzigen Spiele der ihr Herz für das frisch annektierte Mitteldeutschland auf der Zunge tragenden Netzwerktätigen nolens volens gar nicht übersehen konnte. Nur um den Preis, den heuristischen Imperativ vorübergehend zu suspendieren, hätte ich damals Mitglied des P.E.N. bleiben können: Niemals heiligt der Zweck irgendein Mittel, sondern die Mittel verraten allemal die Wahrheit über den Zweck!
Gestockte Winterverhältnisse, in Eis und Schnee. Fassungslose Passagiere, denen es nicht einmal gelungen ist, in den für ihre Reise vorgesehenen und gebuchten Zug zu gelangen, halten ihre nutzlose Reservierung in die nächstbeste Kamera. Die Bahn warnt inzwischen vor sich selbst, was für eine subtile Form der Werbung. In den Feuilletons erblüht Pascals winterharte Poesiealbumsweisheit, das Unglück des Menschen rühre daher, daß er nicht allein und in Ruhe in seinem Zimmer bleiben könne, eine genügsame, ein wenig fade duftende Kunsteisblume. Wer nicht auf einem Flughafen herumlungert oder auf einen Zug wartet, oder just derjenige, liest Sarrazins Traktat über die Selbstabschaffung Deutschlands (laut Verlag wurden davon im Weihnachtsgeschäft täglich hunderttausend Stück verkauft). Wenn die Selbstliquidierung Deutschlands doch nur nicht ausgerechnet bei der Bahn begönne –
Wie wir unsere Wahrnehmungen empfinden, schwankt saisonal. Zimt, beispielsweise, ist aus der „Smell & Taste Clinic“ der Universität Dresden zu hören, duftet in der Weihnachtszeit angenehm, während er im Sommer leicht penetrant riecht.
Hamburg laviert. Durch eine undichte Stelle sind Hamburger Interna in die Öffentlichkeit gesickert. Ein Strategiepapier aus dem letzten Wahlkampf verrät, daß die Drohgebärden gegenüber Scientology, gar die Forderung eines bundesweiten Verbots der Geschäftssekte, taktische Inszenierungen gewesen sind. Wegen der begründeten Vermutung, diese demonstrative Entschiedenheit komme beim Wähler gut an. Dem damaligen Innensenator Ahlhaus, derzeit noch Hamburgs Bürgermeister, gefiel es, sich insgeheim über die inzwischen versetzte Sektenbeauftragte der Hansestadt, Ursula Caberta, eine kundige und couragierte Gegnerin sccientologischer Umtriebe, zu mokieren und sie, und nicht etwa die ebenso skrupellose wie gemeingefährliche, vom Verfassungschutz beobachtete Organisation, für crazy zu erklären. Frau Caberta erwägt eine Klage.
Ein Placebo – Ritual. „Eine Tatsache ist ein kleiner kompakter Glaube.“ (Les Murray)
Hauptbahnhof, Fischrestaurant Gosch, später Mittag. Eine auf Dauer gestellte akustische Weihnachtsmaterialschlacht behauptet eine forcierte Besinnlichkeit und erschwert jedes Gespräch; gerade zischt und pfeift eine militante Schlagerversion von „Stille Nacht“ knapp an meinen Schläfen vorbei. Einst vertraute mir – flüsternd, ein Staatsgeheimnis! – eine befreundete Ärztin an, daß eine menschliche Lunge, die sechs Jahre in Leipzig zugebracht und gearbeitet habe, signifikant geschädigt sei. Ein solcher Musik ausgesetztes Bewußtsein, spekuliere ich nun, weise womöglich schon nach zwanzig Minuten erste Anzeichen einer Verätzung auf. Schräg vor mir ein Paar um die Fünfzig. Er, fusselbärtig, ordert bereits das zweite Hefeweizen, während ich noch an meiner Vorsuppe löffle. Warum ich flüchtig an Jürgen Flimm denken muß, vermag ich auf den zweiten Blick nicht mehr zu sagen. Sie, streng, quersitzendes Hütchen in Kieselgrau, schmallippig, geschminkt, schmalbrillig – eher geschliffene Sehschlitze als Gläser -, anthrazit gefaßt, hält sich an Wodka und spült mit Weißwein nach. Es hat den Anschein, als seien sie der hier herrschenden Lautstärke dankbar, weil durch diese Umstände von allen ehelichen Redepflichten suspendiert. Ich kann mich täuschen, wie schon bei meiner törichten Flimm – Assoziation (vielleicht doch eher: Bissinger?), aber nach meinem Eindruck haben die beiden, im übrigen unzertrennlich, etwa zur Zeit des Mauerfalls zuletzt miteinander gesprochen. Zu meiner Linken nervt ein vielleicht achtjähriger Junge seine Eltern, die in inniger Einsilbigkeit Weißwein trinken, indem er einen zweiflügligen Haken für Garderobe, der an der Unterseite des Tisches angebracht ist, wie einen Propeller rotieren läßt. Von beiläufigen Ermahnungen zeigt sich der Junge wenig beeindruckt. Plötzlich unterbricht das Kind seinen Zeitvertreib und fragt, warum Josef ans Kreuz geschlagen wurde. Milde korrigiert der rotgesichtige Vater, das sei Jesus gewesen, und nicht Josef, Jesu Papa. Die Mama habe übrigens Maria geheißen.
Daß sich die Menschheit früh, als sie noch in den Kinderschuhen steckte, für die anfangs bescheidenen Annehmlichkeiten einer bäuerlichen Lebensform entschieden hat, mit Seßhaftigkeit, Vorratswirtschaft undd kleinen Überschüssen, statt weiterhin als Jäger und Sammler ein prekäres Dasein zu fristen, führt, so Gwynne Dyer, geradewegs in das Verhängnis der Klimakatastrophe gegen Ende des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Von einer schuldhaften Wahl mag man da kaum sprechen. Eher von der Erbsünde der menschlichen Kultur. Moral und Vorwurf greifen zu kurz.
Ein einziger Besuch in Potsdam und Berlin genügte, um bei Goethe eine lebenslänglich währende Abneigung diesen Städten gegenüber auszulösen. Aber auch Hamburg, wie Norddeutschland überhaupt, mochte Goethe nicht. Am 14. Juli 1790 lud der Kaufmann Georg Heinrich Sieveking in seinen Garten in Harvestehude ein, zu einem Fest anläßlich des ersten Jahrestages der Französischen Revolution. Der Gastgeber selbst und Klopstock trugen Oden auf die Revolution vor; die anwesenden Kaufleute bekundeten überschwenglich ihre Hoffnung, daß die Französischen Zustände bald auf Hamburg übergreifen mögen. – Ich erinnere mich gut: Als ich im September 1983 in Hamburg eintraf, gehörte es durchaus zu den guten Gesinnungsmanieren, mich über die großen Vorzüge der DDR aufzuklären, der ich schnöde und mühsam den Rücken gekehrt hatte. – Zu vorgerückter Stunde stimmte man, von der eigenen Begeisterung überrumpelt, auf Sievekings Anwesen die Marseillaise an. Die skandalöse Feier erregte weit über Hamburgs Stadtgrenzen hinaus Aufsehen. Goethe schrieb am 23. Oktober 1793 an Fritz von Stein: „Herr Sibeking (sic!) mag ein reicher und gescheuter Mann seyn, so weit ist er aber doch noch nicht gekommen, einzusehen, daß das Lied: Allons, enfants etc. in keiner Sprache wohlhabenden Leuten ansteht, sondern blos zum Trost und Aufmunterung der armen Teufel geschrieben und komponirt ist.“ (Gefunden bei: Eckart Kleßmann, Goethe und seine lieben Deutschen, Frankfurt am Main 2010) Zwar ließ Goethe von seinem Vorurteil gegenüber Hamburg nie ab, doch immerhin schätzte und respektierte er einige Hamburger: den Maler Philipp Otto Runge, beispielsweise, der in Absprache mit Goethe die Farbenlehre vervollständigte. Für Runge allerdings sollte Weimar zu einer traumatischen Erfahrung werden. Die Teilnahme an einem auch von Goethe ausgelobten Malwettbewerb zum Thema „Odyssee“ geriet für Runge zum Fiasko. Oder der Kaufmann Caspar Voght, eine Karlsbader Kurbekanntschaft vom Sommer 1806. Als Voght Goethe im Herbst 1807 in Weimar besuchte, berichtete er dem interessierten Gastgeber von seinem Mustergut in Flottbek, damals auf dänischem Territorium.
Gegen elf läutet es, und Nathan Niedlich steht unangemeldet und gut gelaunt vor der Tür. Er will seine Stiefel gar nicht erst ausziehen und fordert mich auf, knapp unterhalb eines Befehlstonfalls, ich möge den Computer stehen- und alle Stifte liegenlassen und ihn auf einem Spaziergang durch die verschneite Stadt begleiten. Den zaghaften Einspruch, mein linker Fuß sei nach dem Ermüdungsbruch immer noch in einem prekären Zustand, läßt N.N. nicht gelten. Es gibt Schlimmeres, habe doch schon der Röntgenarzt gesagt, als er mir die Diagnose stellte, erinnert mich Nathan. Mitunter, gar nicht so selten, staune ich, was sich der Freund einprägt, und was er vergißt. Und niemand, so Nathan weiter, schreibe uns vor, wie weit wir gehen müßten, oder treibe uns zur Eile an. Ich sträube mich nicht länger und ziehe die Winterschuhe mit den neuen Korkledereinlagen an, einer Langsohle mit eingearbeiteter Pelotte. Das Thermometer zeigt minus acht Grad Celsius an. Wir behalten einen kühlen Kopf, trotz der Mützen, die wir beide tragen. Das Schneefeld neben dem Haus strotzt von hieroglyphischen Spuren, die von den zahlreichen Eichhörnchen aus der Gegend stammen, Rätsel ohne Lösungen, anmutiger weißer Nonsense. Während ich neben oder, gelegentlich, hinter N.N. herlaufe und mein feines Humpeln zu überspielen mich bemühe, erzähle ich von meinen fehlgeschlagenen Versuchen, mir Spikes für die Stiefel kaufen zu wollen. Frühestens Mitte Januar, vermutlich aber in diesem Winter gar nicht mehr seien Spikes lieferbar, lautete allenthalben die barsche Auskunft, wo immer ich auch nachfragte. Die Verostung des Westens, kommentiert N.N. grimmig, wir haben es lange kommen sehen. Wie gerne wären wir eines Besseren belehrt worden. Trotz der Kälte nehmen wir kein Blatt vor den Mund. Als unser Gespräch die Zustände in unseren Hochschulen, in Lüneburg und in Hamburg, streift – Die Fakultät dreht vor lauter Exzellenzpirouetten völlig durch; die Präsidialverwaltung spielt verrückt und hält ihre Schübe für pure Kreativität; die Planwirtschaft ist allmächtig, weil sie wahr ist -, wechseln wir rasch das Thema, um uns den Tag nicht zu verderben. Die Böschungen und Anhöhen um den Biedermannplatz sind Rodelgebiet. Auf Holzschlitten und Plastikwannen und -tüten rutscht und saust und schlittert es hinab. Fröhliches, panisches, ausgelassenes Kindergeschrei glitzert in der Luft. Noch ahnen die Nachwuchssisyphosse nichts vom Rang ihrer Aufgabe. Daß der Osten gen Westen vorrückt, erscheint uns vielleicht schon bald als eine harmlose Bagatelle, angesichts der rabiaten Übergriffe des Südens auf den Norden, mit ihren taktisch gestaffelten Verwüstungsattacken, wenn im irdischen Klimatollhaus demnächst allein der unheimliche Patient bestimmt, was geschieht. Daß wir derzeit beide, N.N. und ich, „Schlachtfeld Erde“ von Gwynne Dyer lesen, ist, ich kann es beschwören, reiner Zufall. Ein vierschrötiger Junge hat ein etwas jüngeres Mädchen, seine Schwester vielleicht, von hinten gepackt und stopft ihm mit höchster Erbitterung Schnee in den Kragen. Mit der Schulter gegen einen Baum gelehnt, liest eine junge Mutter, in diesem Distrikt der Alleinerziehenden und Alleinerzogenen, , in einer blaßgrauen Steppjacke und mit einem Ringschal tief vermummt, in der taz, die Zeitung unbeholfen zwischen zucchinigrünen Fausthandschuhen haltend. Eine etwa Zwölfjährige raunt einem Altersgenossen zu: Halt‘s Maul, Fotzenkopf. Ein dunkler schmächtiger Junge hat einen ausgemusterten Läufer mitgebracht; der kleine Teppich will aber weder gleiten noch fliegen. Ein bäuchlings rodelndes Mädchen kommt von der Bahn ab und gerät kopfüber in eine Schneewehe. Einen Moment lang schweigt es vor Verblüffung still, ehe ihm zu schreien einfällt. Ein wenig abseits rappt ein vielleicht Achtjähriger auf dem blanken Eis: Tu was du kannst! Tu was du kannst! Tu was du kannst! Das rhythmische Stampfen bringt allemal das Gleichgewicht in Gefahr. Aber der Junge hält eigensinnig an seinem Zeitvertreib fest und sich durch wilde Gegenbewegungen mit den Armen aufrecht. Plötzlich zieht Nathan Niedlich ein Reclam-Heft aus seiner Manteltasche, schlägt es an der durch ein florales Buchzeichen markierten Stelle auf und beginnt, ein Gedicht zu deklamieren, mit finsterem Pathos: Einst kommt die Stunde – denkt nicht, sie sei ferne -, Da fallen vom Himmel die goldenen Sterne, Da wird gefegt das alte Haus, Da wird gekehrt der Plunder aus. Der liebe, der alte, vertraute Plunder, Viel tausend Geschlechter Zeichen und Wunder: Was sie sahen im Wachen, was sie spannen im Traum, Die Mutter, das Kind, die Zeit und der Raum! Kein Spinnweb wird im Winkel vergessen, Was der Körper hielt, was der Geist besessen, Was das Herz gefühlt, was der Magen verdaut; Und Tod heißt der Bräutigam, Nichts heißt die Braut. Das habe ich für Brigitte Kronauer aufgesagt, zum Geburtstag, flüstert mir N.N. zu, und ich spüre einen frostigen Hauch, von der infantilen Unterströmung im Benehmen meines Freundes. Cool, Alter, ruft der kleine Rapper vom Eis her. Ich bin mir fast sicher, daß N.N. das Gedicht auswendig kennt. Er hat gar nicht ins Buch geschaut. Wir stapfen weiter, Richtung Stadtpark, und ich frage N.N. nach seiner Arbeit, oder wie er sich sonst die Zeit vertreibe. Ich warte, antwortet Nathan Niedlich spitz, sieht man das nicht? Weil ich ihm keine Gelegenheit einräumen will, mir über die akuten Umstände seiner uralten schlechten Gewohnheit zu berichten, knurre ich nur: Es nervt. Vermutlich wartet N.N. auf Besprechungen seines elften Buches. Als ob sie etwas bedeuteten. Mich auch, faucht N.N. zurück. Im nächsten Moment will N.N., mit sanfter Stimme, von mir wissen, ob mir der Name Wolfgang Schnur noch etwas sage. Klar, der Anwalt, erwidere ich sofort, ein juristischer Komplize des Menschenhandels a la DDR. Ein vermeintlicher Kirchenfreund. Ich habe ihn einmal wegen meines Ausreiseantrags konsultiert, im Holozän meiner Lebensgeschichte. Als Denunziant enttarnt, habe Schnur nach dem Fall der Mauer seine Zulassung als Anwalt verloren, wiederholt N.N., was mir bereits geläufig ist. Und neuerdings sei er verschollen, in Afrika, seit Wochen schon; der Anwalt a.D. habe in Ghana Geschäfte mit Goldstaub einzufädeln versucht. Narziß und Goldstaub, fange ich vergnügt zu kalauern an. N.N. horcht auf. Ich hätte Wolfgang Schnur nicht vermißt, rede ich weiter, doch leider trifft, nach allem, was mir zu Ohren gekommen ist, nicht zu, was du gerade berichtet hast. Bruder Schnur sitze, so wird es kolportiert, in seiner Villa in Schenkenländchen, am Rande des Spreewaldes, und nicht in Ghana, ein unauffälliger Bürger, und er ergötze sich an den Gerüchten, die über ihn im Umlauf seien. Er schätze, wechselt N.N. abermals abrupt das Thema, an Gwynne Dyer die Scheu vor der Sentimentalität, den analytischen Sarkasmus und den antiapokalyptischen Gestus, die angelsäsische Galgenironie. In einem von Dyer skizzierten Szenario heißt es, salopp paraphrasiert: Regierungen sind immun gegen Atomschläge, wie Kakerlaken. Der Satz ist mir auch aufgefallen, bekräftige ich. Da ist von einem nuklearen Schlagabtausch zwischen Indien und Pakistan die Rede, um 2036. Beide Länder sind in der verzweifelten Situation, ihre Bevölkerung nicht mehr ernähren zu können. Es geht um Wasser, um die Eroberung von Flüssen. Vierzig bis fünfzig Millionen Tote, mutmaßt der Militärhistoriker. Wir sind dann vierundachtzig Jahre alt, Nathan. Schon möglich, erwidert N.N. trocken. Mein Seitenblick erwischt den Freund nicht beim Grimassieren.
Der Großvater war bettlägerig, und man munkelte, dies werde der letzte Weihnachtsbaum sein, den er auf Erden sehe. Man kaufte eine kleine Tanne, setzte sie in einen Blumentopf und schmückte sie mit vergoldeten Äpfeln und Nüssen, dazu Zuckerzeug und Lichter, soviele Platz fanden. In einer blauen Glasschale schwamm eine Forelle. Am Abend des dritten Weihnachtstages tauschte der Großvater für eine Weile das Bett mit seinem Lehnstuhl und las der Familie, Groß und Klein, seine Gedanken vor, die er über das Heilige Abendmahl aufgeschrieben hatte. Später erklärte der Großvater seiner erschrockenen Frau, er sei mit vielem unzufrieden, was er geschrieben habe, und falls er keine Gelegenheit mehr bekäme, es durchzusehen, möge sie das Ganze ungelesen verbrennen. Außerdem befahl er, ihn nach dem Tode nicht zeichnen zu lassen. Wenige Wochen danach sagte der Großvater eines Tages in der Frühe zu seiner Frau: Heute sterbe ich, und zwar zwischen zwei und drei Uhr. Der Morgen verging unter Gebet und lautem Hersagen von Bibelversen. Der Großvater nannte die Namen seiner abwesenden Kinder und gab denen, die da waren, abwechselnd die Hand. Seine liebe Frau küßte und streichelte er. Gegen zwölf bat der Großvater, die Vorhänge seines Bettes zuzuziehen, er wolle mit seinem Gott allein sein. Seine Hoffnung, sagte der Großvater nach der kurzen Klausur, Gott schenke ihm in seinen letzten Stunden etwas mehr als den Glauben, habe sich nicht erfüllt. Dann ließ sich der Großvater noch einmal den wundgelegenen Rücken verbinden: „ – de Tiet geit damit hin.“ Der Großvater fragte häufig, was die Uhr sei, und er wunderte sich, wie langsam die Zeit verrann. Halb drei starb der Großvater. Am Abend legte sich die Großmutter in das andere Bett neben ihren toten Mann. Aber soweit ist es noch nicht, wende ich erschrocken ein, was du erzählst, Natthan, wird erst im Januar geschehen sein. Jetzt ist Dezember. Aufhören? Anfangen? Ungelesen verbrennen? N.N. kann das feine Flattern seiner Stimme nicht ganz verbergen. Ich bin ein wenig enttäuscht, daß von der ruppigen Lakonie des Militärhistorikers, den wir beide gerade lesen, so gar nichts auf N.N. abgefärbt hat. Rasch, Nathan, höre ich mich antworten, wir haben Zeit. Wenn du jemanden liebst, schreib weiter. Schreib für ihn, für sie.
Vivaldi hat vierhundertundvierzig Konzerte für ein Soloinstrument und Orchester komponiert, darunter siebenundzwanzig Cellokonzerte. Zwei davon – g-Moll RV 416 und B-Dur RV 423 – hat Sol Gabetta in dem Programm „Progetto Vivaldi“ gespielt, begleitet von einem Solistenensemble. Und nie zuvor ist mir „Der Winter“, RV 297 op.8 Nr.4, dieser alte Ohrwurm, beim Hören so in die Knochen gefahren, von den dissonanten repetierten Staccato – Achteln zu Beginn an, und mit den verrückten Pirouetten auf dem Eis, dem vom Cello übernommenen Solopart.
Traum: Weshalb wir unterwegs sind, U. und ich, nicht mit unserem alten Volvo, sondern einem schäbigen Lieferwagen, vanillefarben, mit einem Kastenaufbau, vermag ich nicht zu sagen, so wenig, wie ich das Ziel dieser winterlichen Reise kenne. Wir rasten auf einem Autobahnparkplatz, der durch die schmutzigen Schneewälle an seinen Rändern etwas von einer militärischen Befestigungsanlage hat, von einem Glacis. Da stoppt hinter unserem Lieferwagen eine schwarze Limousine, alle Türen springen gleichzeitig auf, präzise choreografiert, und außer einem Chauffeur in Livree und Gerhard Schröder, kullern fünf Kinder, keins älter als acht Jahre, vergnügt aus dem Wagen und beginnen sofort zu toben. Der Chauffeur mustert prüfend unser Auto, dann mich, und er sagt halblaut: Es träfe sich gut. Herr Schröder und seine als schwer erziehbar geltende Begleitung suchten für den Rest des Weges noch eine Mitfahrgelegenheit, und wir hätten ja wohl genügend Platz. Inzwischen sind U., Gerhard Schröder und die Kinderbande zur anderen Seite des Parkplatzes gelaufen, sehr unsicher, wegen der überfrorenen Nässe. Dort findet zur Stunde, auf einem stillgelegten Teilstück der Autobahn, einer mit Eis versiegelten Piste, ein vermutlich illegales Autorennen statt. Wenn es kracht, und es kracht häufig, rhythmisch vertrackt oder auch mit sphärenhaften Obertönen, johlen die Kinder; Schröder auch. Nach einer Weile bietet Schröder den Kindern Zigarren an, erlaubt ihnen aber nicht, sie anzuzünden. Gerhard Schröder, wird mir U. bald berichten, habe ihr während des Rennens ins Ohr geraunt, wenn sie Probleme mit der Stimme habe, etwa unter Heiserkeit leide, so wisse er Rat, ein probates Hausmittel namens Rokoko – Grog. Es habe ihm immer geholfen, als Stürmer beim TuS Talle, auch bei Wahlmüdigkeit. Das Rezept könne sie in seinem Büro anfordern. Als wir alle in den Lieferwagen einsteigen, verhehle ich meine Enttäuschung, aus Taktgefühl. Mit keiner Geste deutet Gerhard Schröder an, daß er sich an mich erinnert. Wir sind uns schon einmal begegnet, in Hannover, und er könnte mich kennen.