Übersicht Sonntag 30.07.2017

Kunstsymbiose

Zu Anke Feuchtenbergers Zeichnungen im "Lexikon des Lebens"

Kunstsymbiose
Versuch über Anke Feuchtenbergers Kohlezeichnungen in Wolfgang Hegewalds „Lexikon des Lebens“

Das digitale Universum degradiert Wissen zur Information. Wer informiert ist, muss nichts begreifen. Ein jüdischer Denker des frühen Mittelalters fragte sich, warum Gott uns nicht einfach die Wahrheit sagte, wenn er wollte, dass wir die Wahrheit wissen. Seine weise Antwort war: Wenn man uns bloß sagen würde, was wir wissen müssen, wüssten wir es streng genommen nicht. Wissen kann man sich nur mit der Zeit und mit Methode aneignen.
In der Ära des trostlos schlauen Internets ist ein Lexikon auf Papier ein kapriziöser Anachronismus und kann nur ein einziges Argument für sein Dasein geltend machen: seine Schönheit, die Ausdruck eines Weltwissens jenseits bloßer Informiertheit ist.
Anke Feuchtenbergers Kohlezeichnungen sind Ansichtssachen von abgründiger Gegenständlichkeit und existentieller Komik und eigenständige Einträge im „Lexikon des Lebens“, weder autonom als Kunst an sich noch illustrativ in jenem Sinne, dass sie Textpassagen bildnerisch variieren. Die Zeichnungen greifen kunstsymbiotisch in den organisch – ästhetischen Mikrostoffwechsel des Lexikons ein und vitalisieren es. Billigt man einem „Lexikon des Lebens“ ein spezifisches Erkenntnisinteresse zu, so könnte man mit Blick auf die Zeichnungen von methodischer Pluralität sprechen. Eine poetische Alphabetisierungskampagne als Instrument der Selbst- und Welterkundung.
An prominenten Kronzeugen, die auf je eigene Weise beglaubigen, was zwischen Begriff und Anschauung geschieht, mangelt es nicht. Rasch kommt einem die berühmte Formel aus Immanuel Kants „Kritik der reinen Vernunft“ in den Sinn. „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind. Daher ist es eben so nothwendig, seine Begriffe sinnlich zu machen (d.i. ihnen den Gegenstand in der Anschauung beizufügen), als seine Anschauungen sich verständlich zu machen (d.i. sie unter Begriffe zu bringen).
Womöglich leuchtet dem Betrachter von Anke Feuchtenbergers Zeichnungen aus dem „Lexikon des Lebens“ ganz besonders die poetologische Maxime des amerikanischen Dichters William Carlos Williams ein (dem Jim Jarmusch mit seinem Film „Paterson“ kürzlich seine Reverenz erwies): “There are no ideas but in things“.
Schau hin. Kappe für die Feier des Augenblicks das Gängelband deiner Vor-Sicht und tritt ein in den Bezirk reiner Schaulust. Schau hin, bis es sich zeigt. Bis es erscheint. Was? Es bedeutet, was es bedeutet. No ideas but in things. Erschrickst du? Lachst du? Staunst du? Weinst du? Wo denkst du hin, wenn dir das vor Augen steht?