Laudatio auf Nina Jäckle
Italo Svevo Preis 2015
Jemand zählt. Jemand singt.
Ein Versuch, die Erzählerin Nina Jäckle zu lobpreisen
(Laudatio anläßlich der Verleihung des Italo Svevo Preises
Hamburg, am 9. Juni 2015)
Ein Vorgänger von mir, so wird es zumindest kolportiert, beging, als er sich anschickte, eine Laudatio auf Nina Jäckle zu halten, einen methodischen Fehler. Statt auf die Texte zu hören, rief er die Autorin an, um biografische Zutaten für seine Lobrede aus erster Hand zu beziehen. – Originalauskunft, Originalerlebnis: das führt unweigerlich in den Authentizitätskitsch, von dem die Prosa Jäckles soweit entfernt ist. – Ich habe in Stuttgart pubertiert, erklärte Jäckle dem Anrufer lakonisch und obendrein wohl wahrheitsgetreu. Dies wiederum schien dem Laudator nicht ganz geheuer zu sein, oder er traute seinen Ohren nicht. Für seine Lobrede, heißt es, wählte er die Möglichkeit der nobilitierenden Alliteration: Nina Jäckle habe in Stuttgart promoviert.
Meine Lesegeschichte mit Nina Jäckle begann, wie alle guten Geschichten, zufällig, mit der Entdeckung eines Prosastücks in einer Anthologie, vor neun Jahren. Möglicherweise Tier, so der Titel, ist eine Liebesgruselgeschichte, eine dystopische Romanze. Eine junge Frau wird durch ihr sehr schwaches Augenlicht aus den Konventionen der alltäglichen Wahrnehmungsbahnen geschleudert und begreift, leichter als Normalsichtige, dass die Wirklichkeit ein Gewimmel von Wahnelementen ist. Bewegen sich die schwarzen Punkte auf den Badezimmerfliesen nicht, handelt es sich eher um Schmutzpartikel als Ungeziefer. Was in der Ecke liegt und nicht zittert, gilt als Socke, nicht als Ratte. Das bedauernswerte Pony neben dem Fahrkartenautomaten an der U-Bahn-Station gibt sich beim Näherkommen als eine Frau mit einer mehrteiligen, gut verpackten Stereoanlage zu erkennen. Wie meist bei Jäckle heißt die Protagonistin Ich; eine Angabe ohne alle Gewähr, falls man dabei an verläßliche Konturen eines Subjekts oder eine stabile Autonomie dächte. Die Protagonistin namens Ich lernt in einem Restaurant einen Mann kennen, und bald werden wir, die Leser, leicht befangen zu Zeugen eines Verhältnisses von beiläufiger Intensität oder intensiver Beiläufigkeit und merkwürdiger Asymmetrie: Immer kommt der Mann zu Besuch; die Frau kann sich sein Leben nur imaginieren und ausmalen und sich mit diesen Fiktionen arrangieren. Bis, und hier kürze ich stark ab, sie ihm, möglicherweise Tier, auf die Schliche kommt: Er vertreibt sich die Zeit damit – Ist es Kunst? Ist es Perversion? Oder Beides? -, Erblindende aus einer Distanz zu fotografieren, aus der sie es nicht bemerken können.
In dieser frühen Erzählung sind bereits viele Elemente anzutreffen, deren Zusammenspiel – nicht zuletzt im musikalischen Sinne – das ausmachen, was ich den unverwechselbaren Jäckle-Sound nennen möchte. Und seinen Modulationsreichtum zu rühmen, ist heute mein Begehren.
Jedenfalls entzündete sich meine Begeisterung keineswegs nur am plot, wiewohl er die Erzählung konstituiert. Ein allemal vergröberndes Stenogramm könnte die folgenden Eigenschaften für diese Prosa begrifflich umreißen: Der narrative Facettenschliff der Reduktion. Reduktion hat mit Simplifikation nichts gemein. Reduktion verfälscht das Komplexe nicht ins Geläufige oder Triviale, sondern dampft es auf Kristallgröße ein – und läßt es in seiner Vieldeutigkeit funkeln. In Jäckles Prosa geben sich Anmut und Präzision ein Stelldichein, und mir kommt eine vermeintlich altmodische Vokabel wie Takt in den Sinn. In diesem Begriff verbinden sich musikalische Feinmotorik und Herzensbildung. Zugleich vibriert diese Prosa von dem, was Ingeborg Bachmann einst „Starkstrom Zeitgenossenschaft“ genannt hat. Mag der Jäckle-Leser gelegentlich auch auf ein Amalgam aus volksliedhafter Innigkeit und erzählerischer Raffinesse stoßen, von regressiver Idyllik keine Spur. Vincent van Gogh schrieb einmal an seinen Bruder Theo, er habe einen ganzen Sommer über wie rasend arbeiten müssen, um den „hohen gelben Ton“ seiner Bilder zu treffen und ihn sichtbar machen zu können. Auf einen hohen gelben Ton gestimmt sein, vielleicht kommt das dem Phänomen nahe, das ich den Jäckle-Sound genannt habe.
Was bei dieser Zwischenbilanz nicht fehlen darf: In Nina Jäckles Erzählen finden sich immer die Spuren eines Sinns für die abgründige Komik existentiellen Unglücks. Und wer mag, kann bereits in Möglicherweise Tier eine Selbstreflexion des Künstlertums erkennen, eine sehr sarkastische. Der Mann ist Fotograf, mit welchen Ambitionen auch immer. Darf er mit seiner Kamera so schamlos handeln, wie er es tut? Wenn nein, warum nicht? Billigt eine landläufige Meinung dem Künstler nicht gern eine Lizenz zur Rücksichtslosigkeit und Radikalität zu?
In „Möglicherweise Tier“ geht die von ihrem schwachen Augenlicht in Eigensinn und Idiotie internierte Protagonistin mitunter einem Zeitvertreib von suggestiver Geheimnislosigkeit nach: Sie zählt. Sie zählt, was in ihrer Lebenswelt der Fall ist. Einmal zählt sie, um der Enttäuschung Herr zu werden, bis minus 63.
Jemand zählt. Hören Sie den feinen Akkord, den Doppelklang? Jemand zählt, um endlich in den Schlaf zu finden. Eine Technik der Selbstbesänftigung. Jemand zählt ungeduldig die Stunden, Tage, Wochen, um seine Erwartung durch ein Maß abzukühlen. Zählen ist eine Kulturtechnik, um dem „Absolutismus der Wirklichkeit“ (Hans Blumenberg) Paroli zu bieten. Wie Erzählen auch. Jemand zählt hat aber auch noch eine andere Bedeutung: Ich rechne mit ihm. Er ist nicht verlorengegangen. Ich erinnere mich an ihn. Ich kann ihn bei seinem Namen rufen. Selbst wenn er gar keinen hat, wie das Pferd ohne Namen, in Jäckles Erzählung NAI. So genannt zählt es bereits und ist nicht zu verwechseln mit dem Pferd, das nie einen Namen gehabt hat.
Jemand zählt – man möchte beinah von einer Grundausstattung in der erzählerischen Genetik der Jäckle-Figuren sprechen.
Jedes neue Buch von Nina Jäckle spielt etwas durch, das es so in diesem erzählerischen Werk noch nicht gab, setzt auf eine ästhetische Versuchsanordnung, die den Leser an einem riskanten Abenteuer beteiligt.
Der Roman „Sevilla“ etwa ist eine mit den Mitteln des Erzählens allmählich verfertigte Studie über das Fremdsein. Ein Fremdsein als kategorische Existenzweise. Eine Frau, eine Deutsche, Komplizin eines Gangsters, ist mit der Beute in Sevilla untergetaucht und beginnt zu warten. Auf den Geliebten, den Mann mit dem Messer. „Warte nicht, aber sei gewiß“, hat er ihr eingeschärft. Also verlegt sie sich aufs Zählen; sonst hat sie keine Ambitionen. Sie spricht kein Spanisch. Sekundäre Analphabeten müssen sich ganz auf ihre Wahrnehmungen, ihre Instinkte verlassen. Mit der Zeit sickert etwas in dieses gestockte Leben ein, etwas Sevillahaftes. In der Hitze der Stadt schmelzen Gewißheiten. Aus zufälliger, nicht ganz zu vermeidender Nachbarschaft zeichnen sich die Konturen neuer Gewohnheiten ab. Leben heißt den eignen Illusionshaushalt je neu zu möblieren und es zugleich besser zu wissen. „Um einen Film zu machen, genügen eine Waffe und ein Mädchen“, meinte einst Jean-Luc Godard. Manche Konstellationen in „Sevilla“ erinnern an Filmsequenzen von ihm. Bei dem Diebesgut, das die Protagonistin nach Sevilla mitgebracht hat, soll es sich übrigens um die Wochenendeinnahmen mehrerer Ballhäuser handeln. Tanzbeute – kein übler Begriff, um einen erzählerischen Ertrag zu ermessen.
Um die Mannigfaltigkeit des erzählerischen Werks von Nina Jäckle anzudeuten, wenigstens noch ein Hinweis: auf die Erzählung „NAI oder was wie so ist“. Hier handelt es sich um eine melancholische Burleske, ein aus Sprachspielen fein austariertes Mobile, das knapp über dem vielbeschworenen Boden der Realität schwebt. NAI ist ein kleiner Ritter undeutlichen Geschlechts von fröhlicher Gestalt, der auszieht, um das Gruseln zu verlernen, auf der Suche nach dem meisterhaften Abenteuer. Teils romantischer Tramp, teils reflektierte Zwitschermaschine, ein bißchen überall und ein bißchen nirgendwo zu Hause. Als sei er – möglicherweise er – von Charlie Chaplin und Paul Klee gemeinsam für ein Experiment erfunden und und in der Prärie der Wörtlichkeit ausgesetzt, wo der Sinn pfeift und der Unsinn blüht.
„-Fernsein heißt Fremdsein, heißt Wogehtslang, heißt Angstundbang, singt Nai.“
Jemand zählt. Jemand singt.
Wer singt, verläßt sich ganz auf seine Stimme. Wer singt, verrät sich oder auch einen anderen.
Im vergangenen Jahr ist der Roman „Der lange Atem“ erschienen, ein Buch von poetischer Wucht und graziöser Präzision, von scharfkantiger Traurigkeit und abgründiger Lakonie, wie mir so schnell kein zweites einfällt. Es ist ein apokalyptischer Buch, nicht im Sinne eines alle Sinne betäubenden Spektakels a la Hollywood, sondern in des Wortes genauer Bedeutung: etwas aufdecken. Ein pensionierter Inspektor der japanischen Kriminalpolizei, der sein Berufsleben lang Phantombilder verfertigt hat, kehrt eineinhalb Jahre nach dem Tsunami in das Katastrophengebiet von Fukushima zurück, wo er seine Kindheit zugebracht hat. Und er beginnt damit, den vom Meer wieder freigegebenen, grausam entstellten Leichen Gesichter zu zeichnen, damit die Angehörigen Abschied nehmen können. Der Zeichner geht obsessiv und unbeirrbar seiner Arbeit nach, der Leuchttisch wird ihm zum Komplizen, und er sammelt sogar die Radiergummikrümel ein, die bei Korrekturen auf einem Blatt entstehen, und bewahrt sie in einer Teedose auf. Alles ist verloren; nichts soll mehr verlorengehen. Jemand zählt. Du weinst nie, sagt die Frau des Zeichners mitunter zu ihrem Mann, erstaunt, vorwurfvoll. – Kalter Blick und Menschenliebe, so faßte Cechov einmal lapidar die Voraussetzungen eines Erzählers zusammen. – Sowohl apokalyptisches Getöse als auch der anklagende Tonfall eines eifernden Lehrgedichts wider Gott, wie es Voltaire anläßlich des Erdbebens von Lissabon 1755 verfaßte, sind dem Roman fremd. Das Meer atmete aus, und dann atmete es tief wieder ein, das war alles. Bitte laufen Sie weg, tönte es hilflos und komisch aus den Lautsprechern am Strand. Nun, hinter der Kante, dem Daseinsriß, kräuselt sich die Meeresoberfläche abermals spielerisch und arglos, als sei nichts geschehen. Die Unerbittlichkeit ist lückenlos. Diesem gleichmütigen Sich-Kräuseln, dem Spiel der Reflexe und Wiederholungen ähnelt die durchtriebene Sprachbewegung des Romans. Aber nicht nur das Meer, auch der Zeichner hat einen langen Atem. Nicht zuletzt intoniert der Roman das Thema der Kunst und handelt vom Paradoxon ihrer Notwendigkeit. Zeichnen ist nichts, was man muß; aber nur, wenn man es muß, ist es Zeichnen. Später beginnt der Zeichner, die Fotos aus dem opulenten, vom Meer verschluckten Hochzeitsalbum aus dem Kopf zu wiederholen. Seine Kunst will auch diesen Erinnerungsschatz, der dem Ehepaar viel bedeutet, heben, aufheben. Du weinst nie, sagt seine Frau, und sie wird ihn verlassen.
Zu diesen erzählerischen Reflexionen über die Kunst selbst gehört auch die Geschichte der jungen Frau, die den Zeichner mit einem Foto ihres verschollenen Zwillingsbruders bedrängt und ihn bittet, nach dem Lichtbild eine Zeichnung anzufertigen und zu veröffentlichen, damit die gebrechliche Mutter ihren Frieden findet. Die Leiche des Bruders wurde jedoch nie gefunden, und der Zeichner weist dieses Begehren lange zurück, als sei es eine Anstiftung zum Betrug oder gar zum Verrat.
Der erzählerischen Fülle und dem Anspielungsreichtum des Romans – der für all das gerade einmal 170 Seiten braucht – kann ich jetzt unmöglich gerecht werde. Aber bevor ich mich am Schopf meiner Begeisterung packe und selber aus dieser Laudatio ziehe, muß wenigstens das Mädchen Aoko noch erwähnt werden. Aoko – was für ein Vokalakkord – wohnte im Nachbarhaus des Zeichners und war fünf, als die Welle es holte. Kurz zuvor hatte Aoko schwimmen gelernt. Zeichne mir einen Affen, und noch einen, damit er jemanden zum Spielen hat, dergestalt waren die Wünsche von Aoko. Der kleine Groll, so nannte Aoko sich ankündigende Erdbeben. Aoko schenkte dem Zeichner einen Radiergummi in Elefantenform. Nun, hinter der Kante, werden die Abzählreime der Kinder bald Jod, Cäsium und Plutonium sein.
Literatur schafft sich ihre Vorläufer. Je länger ich dem Jäckle – Sound nachlauschte und ihm zu erliegen begann, desto deutlicher schlug mir eine andere Stimme ans Ohr, aus dem Schatzhaus der Literatur. Auch da diese zauberhafte Verquickung von eingängiger Melodik und poetischer Raffinesse. Auch da, in Sprache modelliert, minimalistische Opulenz und Seinsintensität. Auch da die hohe Musikalität, die Insistenz einer Stimme. Ich könnte an Henri Michaux denken, gewiß, aber an den denke ich gerade nicht.
Ich denke, Sie werden lachen, an Matthias Claudius, Abendlied, Der Mond ist aufgegangen, Sie wissen schon, Kalt ist der Abendhauch. Auch da zischt das Schreckliche schon durch die Fugen des irdischen Vergnügens.
Agnes Perthes, eine Enkelin von Matthias Claudius, hat in ihren Aufzeichnungen berichtet, dass der Großvater gern und gut Klavier gespielt habe. Einmal baten ihn die Enkelkinder um einen Walzer, „er kannte keinen und sagte: Wenn ihr die Melodie ‚Wer nur den lieben Gott läßt walten’ hören wollt, die hat ¾ Takt.“ Er spielte sie schnell, aber zum Tanzen ließ er es nicht kommen.“
Jemand zählt. Jemand singt. Zum Tanzen läßt es die Prosa von Nina Jäckle nicht kommen.
Ich danke unserem Mäzen, der uns dieses Literaturfest ermöglicht. Ich danke Insa Wilke und Holger Helbig nicht zuletzt dafür, dass sie mir die wunderbare Gelegenheit gaben, Nina Jäckle anrufen zu dürfen.
Und Nina Jäckle gratuliere ich herzlich zum Italo Svevo Preis 2015.