Übersicht Donnerstag 20.06.2019

Laudatio auf Patricia Görg

Italo Svevo Preis 2019

TEPPICHFFALTEN DES LEBENS & FINGERZEIGE DES HIMMELS
Ich könnte mit den Bildern beginnen, bei diesem Versuch, in knapper Zeit die Vorzüge und den Reichtum der Prosa von Patricia Görg anzudeuten. Bildwelten, Bildermacht, Bilderfluchten, Spiele mit der Perspektive, filmische Passagen, Wahrnehmungs- und Beobachtungsopulenz nebst anschaulichen Theoriefragmenten, wohin man auch liest. Das Auge denkt in dieser Prosa mit und redet rein, ja es handelt sogar. „Der lange Arm des Auges“ ist ein Prosastück von Görg betitelt, das fast auf den Tag genau vor 22 Jahren erschienen ist, als die Süddeutsche noch eine Feuilletonbeilage am Wochenende hatte. Es zeigt den englischen Maler und Kupferstecher William Hogarth, wie er die Perspektive neu erfindet.
Doch die Vorstellung von ikonografischer Virtuosität reicht im Falle Patricia Görgs nicht hin; hier sind ikonopoetische Vergegenwärtigungsstrategien am Werk. Was taugten all die Bildeinfälle, Augenblicke und Überblendungen, träfen sie nicht auf eine Sprache, die sie angemessen modelliert und leuchtend zur Geltung bringt, mit allen Valeurs und Nuancen, Schattierungen und Schraffuren, Traumflözen und Doppelbelichtungen, Perspektivverwirbelungen und blow up – Elementen. Sowohl auf der Ebene des Satzes als auch der Textarchitektur. Und eine kühle Klugheit verleiht diesen zur Sprache gebrachten und gekommenen Bildwelten, diesem Weltanschauungspanoptikum allemal eine intellektuelle Tiefenschärfe. Ein bildungsbürgerliches Distinktionsbegehren ist dem Görgschen Sprachbilderhandel völlig fremd.
Poesie – sonst wäre diese Prosa nicht der Rede wert und des Italo Svevo – Preises würdig, prägt und formt das Schreiben von Patricia Görg als ein Hochpräzisionsinstrument, dem ein spezifisches Erkenntnisinteresse innewohnt: etwas mit den Mitteln der Sprache herauszufinden, das anders nicht zu haben ist. Etwas zu entdecken, das nicht allein richtig, sondern wahr ist.
Werfen wir einen Seitenblick auf Görgs erstes Buch, die Erzählung „Glücksspagat“. Ein Mann namens Maat arbeitet sein Berufsleben lang als Aufsichtsperson unter Deck im Halbdunkel eines Kunstmuseums, er hat sich selbst in die Abteilung Mittelalter evakuiert. Weder religiös alphabetisiert noch kunsthistorisch versiert, begreift Maat die Bilder nicht. Und dennoch sickern sie samt ihren sonderbaren Geschichten und Ansichten allmählich in ihn ein, durch nichts als ihr Vorhandensein. Ein merkwürdige Kunstosmose beginnt und greift auf Maats Gedanken- und Gefühlsstoffwechsel über. Am Abend, nachdem er die Gegenwart durch die Hintertür des Museums betreten hat, schaut Maat vom Sofa aus die an spektakulärer Trivialität kaum zu überbietende Gameshow Glücksspagat im Fernsehen. Mitspieler betasten bis zur Unkenntlichkeit verpackte Haushaltsgegenstände, und wenn sie richtig raten, haben sie das Ding gewonnen. Tags darauf findet Gegenwartsmigrant Maat wieder sein Auskommen im Mittelalter. Bis der Museumsdirektor ihm seine nahe bevorstehende Überflüssigkeit ankündigt. Da beendet Maat seine monastisch strenge Lebensform zwischen Goldgrund und Glücksspagat und geht an Bord eines Bildes des Meisters von Tiefenbronn. Maria Magdalena, nachösterlich verfolgt, weil sie vom Kind nicht lassen mag, wird gefangen genommen und mit ihren Gefährten in einem Boot ohne Ruder auf dem Meer ausgesetzt. Auch eine Museumsführerin ist schon dort und erklärt gerade, das Meer sei auf eine einzigartige Weise auf eine Zinnfolie aufgetragen. Da heuert auch Maat auf dem Altar des Abschieds an.
„In der Mitte des Bildes ragt der bekreuzte Mast auf.“, heißt es auf der vorletzten Seite der Erzählung.
Cut. Ich schneide eine kurze Passage aus Görgs „Meer der Ruhe. Ein Abenteuerbuch“ dagegen, aus der Erzählung SCHELF, beginnend mit einem ikonografischen Interieur:“ Vorne ein Krug auf dem Boden. Im Zentrum klumpt das Geheimnis der Nähe, warm und gesichtslos. Gestanztes Blech hebt die tiefsten Wünsche ins Relief. Auf der Keksdose wölben sich die märchenhaften Ausbuchtungen der Mutter, die ihre Kinder behütet, die ihnen vorenthält, dass der Mensch so einsam ist wie ein nackter Mast, der Wellen hört und Sterne sieht.“
Cut. Noch ein Beispiel, um das Spektrum der Görgschen Prosabildwelten anschaulich zu machen. Es stammt aus „MEIER MIT Y. Ein Jahreslauf“. Wir befinden uns im Monat März und begleiten einen in seinem notorischen Geiz Internierten bei seinem Rundgang durch einen Discounter: „In der Frischfleischtruhe, angeschnitten ins Bild ragend, greift Meyers Hand nach zwei Koteletts namens Bauernglück. Schweine, die sich selbst servieren, grüßen mit umgebundener Schürze vom Etikett der Packung. Sie hatten ein hart kalkuliertes Leben, blieben aber fröhlich dabei. Hinter ihnen lockt die Fata Morgana pappelumstandenen Fachwerks, Wahrzeichen der Heimat. Meyer verliert sich für Augenblicke darin. Versteckt zwischen blauen Schleiern aus Wegwarte, sieht er den Bauern ein Schwein schlachten, Blut in einem Bottich auffangen, Wurst machen. Die Kamera über seinem Kopf registriert, wie er das abgepackte Fleisch eine Idee zu lang in der Hand hält, bevor er es in den Wagen legt.“
Ich bin immer noch beim ersten Gesichtspunkt meiner Laudatio, dem artistischen Kunst- und Bilderhandel, bei dem Sprache und Form alle Register ziehen.
Nun soll ein zweiter Aspekt, durchaus kontrapunktisch, ins Spiel kommen, der konstitutiv für die Görgsche Prosa ist: So sehr sie sich für Bilder aller Art interessiert und mit Bildern operiert, so intensiv kreist sie um ein offenes Geheimnis. Das Wunder der Transparenz, der substantiellen Durchsichtigkeit. „Durchsichtige Dinge“, ist ein Essay von Patricia Görg überschrieben, auch ein Fundstück aus dem Holozän der Süddeutschen; unter dieser Rubrik versammelt und bedenkt die Autorin Glück, Glas, Wasser und Luft. Und sie zitiert Jean Paul, tränenhell auf dem reißenden Strom der Zeit unterwegs. ‚Bloß Unglück und Arbeit sind undurchsichtig genug, daß sie die Zukunft verbauen.‘
Vielleicht zählt Patricia Görg heute ihre Betrachtung der durchsichtigen Dinge zu den bunten Murmeln ihrer Prosaproduktion. In ihrem Buch „Glas. Eine Kunst“, heißt es einmal, bunte Murmeln seien Gelegenheitsdichtungen in Glas. „Glas. Eine Kunst“ – hier muss ich mich mit einigen Hinweisen begnügen, die der Fülle dieser Prosa nicht annähernd gerecht werden – handelt vom Leben und Wirken des Alchemisten und Glaskünstlers Johann Kunckel während der Jahre 1686 bis 1688 auf der Havelinsel Pfauenwerder, die ihm der Große Kurfürst, huldvoll und absichtsreich, überlassen hat. Diese Prosa, kaum mehr als 100 Druckseiten lang, verkörpert ihr Thema, indem sie selbst als lichte Materie erscheint, ein abgründiger Pokal aus Sprache, dessen Gravuren die Mehrdeutigkeit der Welt aufblitzen lassen. Eine Gemme der ästhetischen Materialökonomie. Historisches Panorama und poetologische Selbstauskunft. Luzides erzählerisches Nachdenken über das Verhältnis von Kunst und Stoff. – Glas täuscht. Kirchenfenster fließen. Glas als Stein, der sich in die Transparenz gehäutet hat. Von zerbrechlicher Dauer. Glas, das jegliche eigene Farbe aufgibt, um jegliche andere Farbe durch sich hindurch zu lassen. – Johann Kunckels Motto: Die Wahrheit ist mein Ziel, die guten Künst‘ mein Spiel. – Das Prosastück reflektiert auch die Möglichkeitsbedingungen von Kunst. ‚Die Finanzierung eines Kunstwerkes ist Teil des Kunstwerkes‘, so hat es der Verhüllungsalchemist Christo lakonisch auf den Begriff gebracht. Und wer „Glas. Eine Kunst“ als ein Kabinettstück über Kunst und Macht auffassen mag, geht nicht fehl.
Hier mache ich von einem kategorischen Imperativ Gebrauch, über den ich als Laudator während meiner Rede gebiete: Selber lesen!
Dass „Glas. Eine Kunst“ als Band 3 in der Reihe Kometen der Anderen Bibliothek erschienen ist, greife ich gerne auf. „Fingerzeige des Himmels“ haben Patricia Görg, wie Bilder und durchsichtige Gegenstände, seit jeher interessiert. In der gleichnamigen Miszelle – Sie ahnen schon, wo sie sich versteckt hat – heißt es über das Geheimnis von Meteoriten:“ daß sie nämlich ins Derbe vergrößerte Analogien für feinstoffliche Wahrheiten sind.“
Auch die Kometen der Anderen Bibliothek sind ein flüchtiges Phänomen am literarischen Firmament geblieben.
Sollten die bislang erwähnten und gepriesenen Eigenschaften der Görgschen Prosa – der Handel mit wandlungsfrohen Essenzen; die auf Präzision, selbstvergessener Selbstbeherrschung und choreografischer Finesse beruhende Sprachbildakrobatik; das doppelte Spiel von Fenstern und Spiegeln – den Eindruck erwecken, diese Schreibkunst neige zu Eskapismus, so will ich diese Vermutung en passant mit dem Hinweis auf ein weiteres Buch entkräften: „Tote Bekannte. Zeitgeschichten“. Vier Prosaportraitmedaillons, jeweils dunkel grundiert durch die Umstände von Sturz und Tod, die Integrale der Erzählungen sind. Helmut Schmidt 1981 zu Besuch bei Erich Honecker samt des Ausfluges zu Ernst Barlach, in die Potjemkinsche Kleinstadt Güstrow. Die Queen und Lady Di als politische Gefangene des Hofes. Mitterand serviert seinen Gästen zu Silvester, acht Tage vor seinem Tod, des Geschmacks wegen in Cognac erstickte Fettammern. Manche Sätze von Patricia Görg bleiben wie Kletten am Bewusstsein des Lesers haften. „Er kaut auf den Fingernägeln seiner freien Hand. Traut sich nicht, das Abgebissene hinunterzuschlucken, denn es könnte vergiftet sein.“
Nicolae Ceausescu in den Mund gelegt.
Wann immer eine Diktatorenfresse über einen Monitor flimmert, wird dieser Aphorismus über die narzißtische Gesamtverwüstung eines Tyrannenhirns in mir aufglimmen.
Moderne Prosa von Rang, ich riskiere diese These, interessiert sich vor allem für das Scheitern und hat ein Sensorium für existentielle Komik. Modernität ist dabei kein Epochenbegriff, sondern Ausdruck eines Weltwahrnehmungsverhältnisses. Und Scheitern meint nicht einen Katalog von Pleiten, Pech und Pannen, der sich als Vademecum der Schadenfreude seines Marktwertes sicher sein kann.
Scheitern ist ein anthropologisches Grundverhängnis, könnte ich sagen, klänge es nicht so einschüchtern diskursiv und so wenig erzählerisch. Wen der Satz, der Mensch sei das Maß aller Dinge, erst zum Staunen und bald zum Lachen bringt, der hat die Fährte aufgenommen. Wir sind die Narren, die wir an uns selbst gefressen haben, so begönne vielleicht eine poetische Theorie des Scheiterns.
Patricia Görg intoniert das Thema im Geleitwort ihres „Handbuch der Erfolglosen. Jahrgang zweitausendundelf“. „Gleichmut ist aber vor allem vonnöten für jene Erfolglosigkeit, für jene sanfte, lebensimmanente Form des Scheiterns, die jedem widerfährt, und sei er noch so weit gekommen.“ Dass die Idee des Scheiterns sich selbst als Teil unseres Illusionsvorrates entpuppen kann, wenn sie sich zu einer Grandiositätsphantasie aufbläht, darauf weist Görg gleich zu Beginn ihrer Einführung in das Handbuch hin, indem sie Kipling zitiert, der Triumph und Katastrophe als Hochstapler apostrophiert, beide.
Eine Mitschrift des Jahres 2011, in Gestalt eines Prosakaleidoskops, gegliedert in Kalenderwochen, eine Forschungsreise in die dicht besiedelte Welt der Erfolglosigkeit. Namen tauchen wie Zeitanker auf. Dominique Strauss-Kahn und Karl-Theodor zu Guttenberg. Fukushima und Gaddafi. Besser als es das Vorwort von Patricia Görg tut, kann ich das Handbuch nicht annoncieren: „In den Kalenderwochen des ‚Jahrgangs zweitausendelf‘ finden sich stürzende Männer (Blender, Despoten, Schürzenjäger und Riesen), die über die Teppichfalten des Heute, Gestern und Morgen stolpern, stürzende Börsenwerte und eine Sammlung von Katastrophen und Kleinigkeiten aus aller Welt. Meine Exkursionen führen in Vorträge und Lesungen, Ausstellungen und Kinos, in denen die Welt besungen, zerfetzt, geklebt, durchleuchtet – also bearbeitet wird.“ In die Exkursionen sind Fallgeschichten eingezogen und laufen als Borte um das Jahr. Ihr Muster zeigt die Wirklichkeit als ein Gewimmel von Wahnelementen und als das befremdliche Wunder, im Irdischen zu Hause zu sein. Ab und zu stupst ein Exoplanet das Buch sanft an, der Zeigefinger des Himmels.
Der letzte Eintrag im Handbuch trägt den Titel SCHWEBENDE ZUKUNFT und erzählt abermals von einem Bild. Die Verkündigung an Maria von Konrad Witz, um 1444. Im Zentrum des Bildes nichts als eine weiße Wand, auf der sich der Schatten eines Heiligenscheins abzeichnet. Über die auf dem Bild dargestellte Konstellation zwischen Maria und dem Engel schreibt Görg: „Ein Auffahrunfall zwischen Quantenmechanik und Relativitätstheorie sähe vielleicht ähnlich aus. Hier sind es Lebenszeit und Prophetie, die kollidieren.“
Schwer zu fassen und doch keinesfalls außer Acht zu lassen: Die Prosa von Patricia Görg ist durch etwas fermentiert, das ich eine Haltung nennen möchte. Sie begründet und verströmt das Aroma der Unverwechselbarkeit. Empathie und das Erzählen aus einer Halbdistanz, das sich mit nichts und niemandem gemein macht, wenn es den Tyrannen Zufall und Zeit bei der Arbeit zuschaut. Keine psychologischen Spielchen; womöglich hat das Psychologiestudium Patricia Görgs poetologisches Immunsystem gestärkt. Und schon gar keine durch das Berufen auf Autofiktionalität lizensierte Schamlosigkeit. Anmutige Intelligenz und chirurgisch versierter Sarkasmus; fein austarierte Balance von Verknappungskunst und Überschwang; nicht naive Sympathie und heller Spott. Dies verdankt sich allein einer Sprache, durchsichtig, geheimnisvoll, fließend, stark und von fragiler Beständigkeit wie Glas und Glück.
Zum Ende meiner Laudatio will ich mir ins Gedächtnis rufen, dass Loben eine prekäre Kunst ist, angewiesen auf Kenntnis, Maß und Verstand. Sonst kann es peinlich fehlschlagen, wie es eine Episode in „Glas“ berichtet. Meister Kunckel inspiziert in der Schleifhütte einen Pokal, kunstvoll und kunstfertig mit einer heraldischen Menagerie ausgeschmückt, bis er entdecken muss, dass über dem Wappen eine Krone schwebt, und nicht ein Kurhut, wie es für den Großen Kurfürsten angezeigt ist. Der Glasschneider hat, servil oder zerstreut, alles verdorben.
Wie also soll, wie kann man die Prosakunst von Patricia Görg angemessen loben und rühmen?
Ich folge einem Rat von John Cage, der, ein „hochdisziplinierter Hasardeur des Regelverstoßes“, in KW 38 des „Handbuch der Erfolglosen“ einen Auftritt hat, und will die schöne Frage nicht durch eine Antwort beschädigen.