Übersicht Sonntag 01.11.2015

November

Taschenbuch 2010 / Aufzeichnungen

Über „Stopfkuchen“, diese durchtrieben abgründige, hinreißend unverschämte See-und Mordgeschichte, über diesen mit subversiven Zitaten gespickten Anti-Storm (die Travestie von „Ein Doppelgänger“), diese erzählerische Selbstauskunft, mit einer ins Konvexe gewendeten Leiblichkeit, schrieb Romano Guardini im seinem Essay von 1932: „Eigentlich, wenn man nur je zehn Seiten des Buches zusammennimmt, steckt immer schon das Ganze drin. Und wird doch immer neu aufgehoben, und ist immer etwas anderes.“ Für dieses Strukturprinzip der Selbstähnlichkeit hat der vor wenigen Wochen gestorbene Mathematiker Benoit Mandelbrot einen inzwischen berühmten Namen geprägt: Fraktal. Wilhelm Raabe war sechzig, als „Stopfkuchen“ erschien, und er hätte sein Schreiben gern damit bewenden lassen. Aber er mußte für seine Familie sorgen. „Müßte man nicht in der Tretmühle weiter, so würde dieses Buch mein letztes gewesen sein“, schrieb er an Paul Heyse. Bis es „Stopfkuchen“ zu einer zweiten Auflage brachte, verstrichen fünfzehn Jahre.

Im Sommer 1859 traf Wilhelm Raabe in Leipzig Gustav Freytag und sprach dem älteren Kollegen vom Wunsch, nach Italien zu reisen. Freytag riet ab: „Was wollen Sie denn in Italien?…Dieser Hang nach dem Welschland ist ein sündiger Erbfehler der Deutschen. Nach Hollywood sollten Sie gehen.“

Gemeinheit und Niedertracht sind Konstanten in der Weltwahrnehmung Wilhelm Raabes. In seinem Elternhaus, so überliefert Raabe eine frühe Erfahrung des Bösen, wurde ein zahmer Rabe gehalten. Bei einem Wohnungswechsel der Familie mochte der Rabe nicht mit umziehen, und er freundete sich mit einem an der Kette liegenden Fuchs vor dem Campeschen Haus an. Fuchs und Rabe teilten sich gelegentlich das Fressen. Nun neigte der domestizierte Rabe mit der Zeit, verwaist und zunehmend verwahrlost, zu Unfug und Schabernack. Deshalb schoß ihn der junge Campe ab, als er, der Rabe, wieder einmal zu Gast bei dem gefangenen Fuchs gewesen ist.
Kaum daß der Rabe tödlich getroffen war, stürzte sich der Fuchs, eben noch sein Kumpel, auf ihn, um ihn auszuweiden. In einem posthum veröffentlichten Schulaufsatz „Die Schwalben und die Sperlinge“ variiert der junge Raabe die Erfahrung kreatürlicher Grausamkeit so: Die aus dem Süden zurückgekehrten Schwalben finden ihre Nester von Sperlingen besetzt, und die Spatzen begründen ihren Anspruch mit der dreisten Behauptung, sie hätten sich diese Wohnungen schon vor fünf Jahren gebaut. Die Schwalben sind perplex und fragen den Storch um Rat. Dieser gibt vor, er müsse, ehe er antworten könne, erst einmal nach Ägypten reisen, um die alten Schriften zu studieren. Die Katze schließlich schlägt den Schwalben vor, den Sperling im okkupierten Nest einfach mit Erde und Dreck einzumauern. So geschieht es. Der Sperling erstickt. Der alte Raabe ließ sich nur mit Mühe durch seine Familie davon abbringen, daß ein Satz aus seinem Roman „Schüdderump“ in den Sockel einer Porträtbüste eingraviert wurde: „Daß die Kanaille Herr ist und bleibt“.

Kürzlich erwähnte N.N., schon im Mantel, zwischen Tür und Angel, er habe vor einer Weile in einer Tageszeitung etwas über eine Langzeitstudie gelesen, deren Absicht es sei, Korrelationen zwischen gewissen -nicht im strengen Sinne medizinisch zu nennenden – Parametern und der Lebenserwartung der Probanden zu ermitteln. Ein fester Händedruck, beispielsweise, oder das Vermögen, lange auf einem Bein stehen zu können, gelten nach den Befunden dieser Studie als Indizien, dass einer, käme ihm zuvor nichts Grobes dazwischen, damit rechnen dürfe, älter zu werden. Wegen seines Händedrucks mache er sich keine Sorgen, sagte N.N. halblaut auf der Schwelle zum Treppenflur und quetschte mir demonstrativ die Rechte, aber seine Selbstversuche mit der Einbeinigkeit hätten bei ihm gemischte Gefühle und diffuse Ängste hinterlassen.
N.N. verbeugte sich knapp, vor mir oder vor einem ominösen Schicksal, dann war er in dem verwahrlosten Treppenhaus verschwunden.

Für das Exekutiv-Komitee des neugeschaffenen UN-Woman-Büros – es soll weltweit für Gleichberechtigung und Emanzipation der Frauen eintreten ­kandidieren Iran und Saudi-Arabien. Wir warten nun gespannt auf eine Verlautbarung der UN-Woman-Behörde, welches Datum demnächst zum Weltsteinigungstag ausgerufen wird. Warum nicht der 9. November.

Wir stehen auf einem Bein, oder wir hören mit einem Ohr zu. Wir ziehen uns morgens an, um uns abends wieder auszuziehen. Wir bitten oder danken ab. Wir schlafen zu lang und springen zu kurz. Woher denn das? Wo denkst du hin? Wir blinzeln, wenn das Glück gegen die Lider pocht, Einlaß begehrt und uns den Verstand rauben will. Haltet den Dieb. Wir lachen gern, reißen uns aber selten dafür ein Bein aus. „Wir spielen, bis der Tod uns abholt“, schrieb Kurt Schwitters aus Hannover, just zehn Tage vor meinem Großvater Otto Müller geboren, im Juni 1887, Künstler, SPD-Mitglied seit 1932, deutscher Emigrant, erst in Norwegen, dann im nordenglischen Lake Distrikt. Dort ist er mit sechzig gestorben; über seinen Händedruck wissen wir nichts.

Am vergangenen Sonntag ist Swetlana Geier, die Frau mit den fünf Elefanten, gestorben.

Wie lebte es sich, wäre man mit dem Namen Eichmann zur Welt gekommen; sagen wir: im März 1944, als jüngster Sohn eines Herrn Eichmann, nicht jenes Adolf Eichmann, aber immerhin eines SS-Obersturmbannführers und Majors der Gestapo. Auch Adolf E. hatte Söhne. Und hätte man wirklich Gründe, zu glauben, der eigene Vater habe etwas bereut und Bedrohten geholfen, ließe sich, mit dem Stigma des Namens, davon sprechen? Oder müßte einem die Scham den Mund verschließen? Sollte man es aus Takt für geboten halten, nur denjenigen ein Rederecht zuzubilligen, die aus eigener Erfahrung ein Wort für den Vater einlegen könnten? Trifft es zu, dass ein angeborenes Mandat den Sohn zum Pflichtverteidiger seines Vater bestimmt?
Der achtzigjährige Clint Eastwood erklärt, er halte das Jenseits für ausgemachten Humbug, und an einem ewigen Leben sei er nicht interessiert. Schon der Gedanke an einen Ruhestand, und was er dann mit sich anfangen solle, mache ihn ratlos. Ein kaum zu bezwingendes Mißverständnis: die Ewigkeit als unendliche Dauer und auf‘s Äußerste gedehnte Zeit gedacht. Doch die Ewigkeit beginnt erst dort, wo die Zeit endet; eine himmlische Alternative, keine Verlängerung.

Ich muß an die Schnurre von dem preußischen Landgeistlichen und dem König denken. Jemand hinterbrachte, mit denunziatorischen Absichten, Friedrich Wilhelm III., ein Pfarrer habe Zweifel an der Auferstehung der Toten geäußert und sei wohl in seinem Amt kaum noch tragbar. Der Bescheid des Königs fiel lakonisch aus: Der Pastor solle weiterhin seinen Dienst in der ihm anbefohlenen Pfarre versehen. Und am Jüngsten Tag möge er liegenbleiben.

U.s Traum: Ich habe mich vom Dach des Hauses gestürzt. Mit dem Ruf, wir hätten doch verabredet, daß wir es einmal ausprobieren wollten, sei ich die Treppe hochgestürmt und gesprungen. Während ich fiel, trug ich, so U., eine weinrote Jeans und ein Hemd, ebenfalls in einem dem Braun nahen Rotton, mit dunklen Einsprengseln übersät. Betrachtete man dieses Hemd eine Zeitlang, so begann es zu flimmern, wie früher ein Fernsehbildschirm nach Sendeschluß, nur eben nicht in Schwarzweiß. Mein Aufprall fügte dem Hof eine Mulde zu, einen sanft geschwungenen Krater. Von einem Einschlag mochte niemand sprechen.

Ein Mann, allein, der mit seinem Ferrari im Kreis fährt, nein, im Dreieck, nichts als Staub aufwirbelnd im Einerlei einer Halbwüste: die reine Utopie der Hollywood-Prominenz. „Somewhere“, der neue Film von Sofia Coppola, gleicht einem endoskopischen Spaziergang der Blicke ins Innere der Celebrity-Welt-Betrachtungen, die sich Zeit lassen, prismatisch gebrochene Augenblicke, in denen die Koinzidenz von Alles und Nichts flüchtig sichtbar wird. Ein lakonisches Inbild des Ruhms: Jonny Marko, der Hollywoodheld, muß sich eine Maske abnehmen lassen: Eine atmende Büste, eine monströse Visage aus Gips und Mull, zum Warten verurteilt, zwei leise pfeifende Nasenlöcher; sich gerade noch beherrschende Panik. Als der Protagonist, von sich selber angeekelt, während eines Telefonats schluchzend zusammenbricht, mit Ausrufen wie: Ich bin ein Nichts! Ich bin weniger als ein Mensch!, da kontert die Stimme der Frau (am anderen Ende der Leitung, will mir eine träge Seemantik soufflieren), der Mutter seiner Tochter, kühl: Versuch es doch einmal mit einem Ehrenamt.

Rollenspiele, Maskeraden ad libitum.

Joseph Goebbels, Anfang dreißig, bettelarm und arbeitslos, bereitete sich auf ein höheres Amt vor, indem er immer wieder seine Unterschrift übte: Universitätsprofessor Dr. Joseph Goebbels. Mit fünfunddreißig war er dann Reichsminister.

Genau sechs Tage, bevor zu Eschershausen bei Holzminden im Herzogtum Braunschweig ein Knabe namens Wilhelm Raabe zur Welt kam, gründete Dethloff Carl Nihstroff, zwanzig, Sohn eines Webers, später Großherzoglicher Hofbuchhändler, seinen Verlag, gefällt es Nathan Niedlich zu dozieren, während er in meiner Küche, bei Esspresso und Wasser, schon das fünfte oder sechste Stück schwarze Schokolade vertilgt.

1. Neigung, andere zu belehren, nimmt mit dem Alter bedrohlich zu, denke ich besorgt. Der erste Verlag, der uns abgelehnt hat, meint N.N. maliziös und frißt weiter. Ich habe von Nihstroff nie eine Absage erhalten, erwidere ich schroff. Zeig mir Bücher von dir, die dort erschienen sind, kontert Nathan Niedlich. Dann scheint er plötzlich das Interesse an diesem Thema zu verlieren. Wo ist eigentlich das schmuddlige Findelhandy geblieben, dessen Herkunft wir uns nie wirklich erklären konnten, will der Freund jetzt wissen. Ich kann es nicht sagen. Es heißt, so N.N. weiter, das Handy sei in unserer Gegend wieder auf Sendung, undeutlich flimmernd zwar, aber mit häuslicher Pornographie aus Bramfeld und Farmsen, immerhin. Ein Spinner aus Volksdorf, wird kolportiert, so N.N., lasse von Zeit zu Zeit ein Filmchen durch den Äther flattern, das zeige, wie er seinen Schwanz, wenn eine Erektion über ihn komme, mit Hilfe eines leise rauschenden Tischventilators sacht abkühlt; das könne bis zu siebzig Minuten dauern, fast Spielfilmlänge. Ich nicke, als hätte ich verstanden, was ich gehört habe. Aber vielleicht wollte N.N. mit diesem Gerede auch nur meine Aufmerksamkeit in die Irre führen. Denn gegen Abend finde ich im Schuhschrank versteckt ein Typoskript, das N.N. heute von mir unbemerkt da deponiert haben muß. Ein Osterei im November.

2. Taschenspielerkünste, muß ich widerwillig einräumen, sind phänomenal.

3. Unter Tage. Pech und Satzbau
Hirten begruben die Sonne im kahlen Wald:
Die Sonne ist das, was keiner begräbt.

4. Damals ist Karl Bergmann so alt gewesen, wie ich heute bin, geht es Nathan Niedlich unversehens durch den Kopf, als er sich zu erinnern beginnt, und ein feinstofflicher Schrecken rieselt ihm bittersüß durch den Leib. Die Aussage ist richtig -na und? Karl Bergmann, Ende fünfzig, war massig, nicht dick, und von lauernder Freundlichkeit. Die Trunksucht lag damals hinter ihm, und sie hatte ihre Spuren hinterlassen. Als sei dem Körper, nach dem Abzug des Alkohols, die eigene Haut zu weit geworden. Viele Jahre später wird der Dichter Wolfgang Hilbig, selbst über weite Strecken – oder sollte es besser heißen: durch lichtlose Stollen -seines Lebens der Nüchternheit abhold, N.N. erzählt haben, was ihm gelegentlich widerfuhr, wenn er Karl Bergmann in seiner märkischen Einöde, dem selbstgewählten Exil, besuchte. Bergmann habe seine Ärzte mit der Auskunft zitiert, ein weiterer Rückfall ins Saufen werde ihn das Leben kosten, und währenddessen eine Flasche Schnaps auf den Tisch gestellt. Trink, habe er ihn, Hilbig, aufgefordert, eher Befehl als Bitte, trink sie für mich aus. Und Bergmann habe ihm beim Vollzug aufmerksam zugeschaut. Teile ich, neben anderen Vorlieben, etwa diese sadomasochistische Selbstbestrafungsraffinesse mit Karl Bergmann? N.N. legt diese Frage wie einen prächtigen, soeben erbeuteten Schmetterling behutsam beiseite.

5. Zirka zwanzig Glieder einer Evangelischen Studentengemeinde reisten hochgestimmt, mit der finsteren Feierlichkeit von Verschwörern, in ein Kaff im Erzgebirge, wo sie, semikonspirativ, in einem von protestantischen Koniferen umhegten kirchlichen Freizeitheim ein Wochenende mit dem zwischen Riesengebirge und Ostsee weltberühmten, einst staatsfrommen, nun furchtlos verzweifelt staatsfrechen Schriftsteller Karl Bergmann verbringen wollten. Bergmann las Passagen aus einer noch unveröffentlichten Prosaarbeit, einem Romanessay, der anhand der Erfahrung mit Georg Trakls Gedicht vorführte, wie gewisse, noch vor dem Begreifen als existentiell empfundene Lektüren biographische Umstände durchleuchteten und erhellten; katalytische Eingriffe in den Gedankenstoffwechsel durch ein, gelegentlich auf schreckliche Weise, wunderbares Spurenelement namens Dichtung, das dann, und nur dann, so heißen durfte. Die Poesie als eine unbedingte Lebensmacht, und die Sprache, diese unerschöpfliche Chimäre, als ihr ureigenstes Element – Nathan Niedlich war begeistert. Gegen den Augenschein der Schäbigkeit taugte die entlegene evangelisch-lutherische Holzbaude für Offenbarungen. Mit der Zusage, dass er Karl Bergmann schreiben dürfe, fuhr Nathan Niedlich in seinen Alltag zurück. Und bald darauf forderte ihn Karl Bergmann sogar auf, er möge ihm doch eigene Prosaversuche zeigen. In einem Kapitel eines autobiographisch verspielten Romans hat N.N. später von dieser Begegnung erzählt.

Die Hauptabteilung XX des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR hat die in sechs Ausfertigungen zirkulierende Information über das Auftreten des Schriftstellers Karl BERGMANN während der Feierlichkeiten zum 150jährigen Bestehen des Nihstroff Verlages Schwerin am 2.9.1981 als streng geheim deklariert.

Während der am 2.9.1981 stattgefundenen Festveranstaltung anläßlich des 150jährigen Bestehens des Nihstroff-Verlages Schwerin (…,da der Privatverlag Carl Nihstroff in den VEB Nihstroff Verlag überführt wurde, leider ohne das „Carl“ beizubehalten, in der schönen alten Schreibweise mit „C“, doch dankenswerterweise dafür auch ohne die gräßlichen Durchkopplungsbindestriche, die der Duden in seinem Allregulierungswahn von Leipzig her dem Verlagswesen sonst aufzwingt, so heißt es in Bergmanns Festrede), an der als offizielle Persönlichkeiten der stellv. Minister für Kultur, Gen. Siegfried W., Vertreter der SED-Bezirksleitung und der Oberbürgermeister teilnahmen, hielt der Schriftsteller Karl Bergmann die Festrede.
So hebt das zweiseitige, streng geheime Rundschreiben vom 5.9.1981 an.

Wie kommst du darauf, dass dich Karl Bergmann in seiner Schweriner Festrede vom 2.9.1081 erwähnt hat?, erkundigt sich W.H. kalt. Er habe den Wortlaut des Vortrages durchgeschaut; der Name Nathan Niedlich falle nirgends.

N.N. ist perplex. Er hätte es beschwören mögen. Dass W.H. sein Freund sei, daran hegt N.N. nicht den geringsten Zweifel. Seit einer Weile steckt N.N. W.H. unveröffentlichte Texte zu, weil ihm das Urteil des vertrauten Kollegen viel bedeutet. Er schätzt sein geschultes Gehör in Prosangelegenheiten.

Kürzlich lud jemand Nathan Niedlich ein, sich an einer Umfrage unter Schriftstellern zu beteiligen: Warum heute Karl Bergmann lesen? Die Frage verstimmte ihn auf eine schwer zu erklärende Weise. Warum lesen?, hörte sich N.N. knurren.

Durch Karl Bergmanns Vermittlung war das Typoskript einer langen Erzählung N.N.s nach Schwerin gelangt, in die Räume des Nihstroff Verlages, dann die erste Fassung eines Romans. Der Verlag, in Gestalt der Herren Harry & Horst, einer literarisch-politischen Doppelstreife, lobte die Arbeiten des Eleven N.N., hieß den Debütanten bei Autorentreffen willkommen -und zauderte und zögerte, etwas von N.N. zu veröffentlichen, warnte vor Rezeptionsschwierigkeiten. Seine Vertragspflichten erfüllte der Nihstroff Verlag in märchenhafter Manier: Er alimentierte seinen Autor N.N. üppig, ohne erst einem groben Materialismus anheim zu fallen und gedruckte Bücher in Umlauf zu bringen. Ein alertes Gaunerduo, Verlagsleiter Harry & Cheflektor Horst, wie Nathan Niedlich heute weiß; damals beide in den Diensten des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR. Irgendwann riß dem Mentor Karl Bergmann der Geduldsfaden, und er stellte seinem Verlag ein Ultimatum: Erscheine bis zum Jubiläum im September 1981 nicht endlich eine Prosaarbeit seines Zöglings Nathan Niedlich, so werde er den Fall in der Festrede erwähnen. N.N., der dabei gewesen ist, will es mit eigenen Ohren gehört haben.

Nathan Niedlich gefiel Karl Bergmanns virtuoses Parlando, und wie er die verwegene, mit böhmischem Barock kokettierende Opulenz seiner Sätze, ein parataktisches Mobile, kontrollierte und in der Schwebe hielt; Ausschweifung und Zucht. In einem synchronen Panorama führte Karl Bergmann den Gästen des Festaktes am 2.9.1981 in Schwerin vor Augen, was alles im Gründungsjahr des Verlages, 1831, durch einen zwanzigjährigen Webersohn aus Parchim, der Fall gewesen ist: Ein Herr namens Colt erfand den Revolver. Goethe schloß den „Faust“ ab. Heine und Chopin emigrierten nach Paris. Justus Liebig entdeckte das Chloroform. Ein neuer Staat konstituierte sich in Europa, das Königreich Belgien, mit einer als äußerst fortschrittlich geltenden Verfassung. Gneisenau und Hegel starben an der Cholera, die in Europa wütete. Wilhelm Raabe wurde geboren. Comte entwickelte den Positivismus. Im Teutoburger Wald begann man, am Denkmal Hermann des Cheruskers zu bauen. Der Begriff „Sozialismus“ wird erst im kommenden Jahr geprägt worden sein. Ludwig Tieck schrieb seine Novelle „Die Wundersüchtigen“. Zur Befriedung des soeben eroberten Algier wurde in Paris eine Fremdenlegion installiert. Auch Sachsen erhielt eine neue Verfassung, eine ziemlich reaktionäre. Der Badener Abgeordnete Carl Theodor Welcker brachte in der II. Kammer des Landtags zu Karlsruhe seine berühmte, als juristisch und geschichtsphilosophisch unwiderlegbar begründet angesehene „Motion zur Aufhebung der Censur oder Einführung vollkommener Preßfreiheit“ ein. Als Karl Bergmann, gegen Ende seiner Rede, sagte: Für manche Manuskripte junger Autoren sogenannter schwieriger Art -N.N. befand sich damals in seinem dreißigsten Jahr, dem heiklen -hat Nihstroff Beispiele geschaffen, die zu der Hoffnung ermutigen, daß ähnliche, und schwierigere, erwogen und vollzogen werden, mußte es um N.N. geschehen sein. Dass zumindest an dieser Stelle dem festlichen Auditorium zu Schwerin nicht sein Name in den Ohren geklungen habe, mochte Nathan Niedlich schon bald nicht mehr glauben. Schließlich hat er selbst unter den Zuhörern gesessen.

Aus dem streng vertraulichen Papier des Ministeriums für Staatssicherheit vom 5.9.1981: Anhand des vorliegenden Manuskriptes der Festrede war durch den stellv. Minister für Kultur, Gen. Klaus H., in einem am 27.8.1981 geführten Gespräch mit dem Leiter des Nihstroff-Verlages, Gen. Harry F., festgelegt worden, auf Bergmann durch Gen. F. Einfluß zu nehmen, dass folgende Passagen seiner Rede zu streichen bzw. zu ändern sind:

1. Die unter Anspielung auf den „Weggang“ der Nihstroff-Autoren Jurek Becker und Klaus Schlesinger aus der DDR von Bergmann formulierte Kritik am „fehlenden öffentlichen Dialog“ in der DDR, am „bewußten Verschweigen der Wahrheit und der Ursachen“, die zum „Weggang“ einiger DDR­-Schriftsteller führten.

2. Die von Bergmann angenommenen Zweifel, dass der Sozialismus eine Gesellschaft nichtantagonistischer Widersprüche geschaffen hat und daß die Interessen des Einzelnen immer mit denen der Gesellschaft übereinstimmen müsse.
(Trotz oder wegen einer manischen Literaturfixiertheit mag Deutsch nicht das Lieblingsfach des Ministeriums für Staatssicherheit gewesen sein; Anm. N.N.)

3. Die Feststellung Bergmanns, dass er in der DDR nicht in allen seinen Vorstellungen die Heimat gefunden habe, die er erhoffte.

4. Streichung des Namens Nathan Niedlich, den Bergmann als einzigen namentlich benannt und als „Autor“ des Nihstroff-Verlages bezeichnet hatte und der eine ablehnende Haltung zur gesellschaftlichen Entwicklung in der DDR besitzt.

Seinen autobiographisch fermentierten Kolportageroman hat N.N. geschrieben und veröffentlicht -unter einem Pseudonym; dafür mußte einst der Name seines Freundes W.H. herhalten -, bevor ihm die streng geheimen Dokumente aus dem Ministerium für Staatssicherheit in die Hände gefallen sind. Da, im Roman, heißt es, über die Schweriner Festgesellschaft anläßlich des Verlagsgeburtstags und den prominenten Redner: Zu jener Zeit verkörperte Karl Bergmann bereits seine schreckliche Erbitterung. Einer, der die Hoffnung einfach nicht fahrenlassen konnte, die Mächtigen, die sich prinzipiell der richtigen und guten Sache verschrieben hatten, doch noch für die Partei der Poesie zu gewinnen. Der vom Glauben an ein tragisches, aber durch Aufklärung aus der Welt zu schaffendes Mißverständnis nicht abzubringen war. Damals rückte Karl Bergmann Goethe-Verse als Impressum in sein Briefpapier ein, das er benutzte, um Bonzen eines Besseren zu belehren und Jünger zu trösten: Übers Niederträchtige niemand sich beklage; / Denn es ist das Mächtige, was man dir auch sage.
Was er während des Verlagsjubiläums in Schwerin erlebt hat, faßte N.N. für sich unter der Chiffre: magische Apartheid. Alles deutete darauf hin, dass er sich in der Gesellschaft gut gelaunter und festlich gestimmter Schlafwandler befand. Kaum ließ sich N.N. irgendwo nieder, in einer Stuhlreihe, um dem Festvortrag zu lauschen, oder an einem Tisch zum Essen, da standen, in einem akuten Tranceanfall, alle in der Nähe Sitzenden auf und suchten sich anderswo einen Platz, von einer perfekten Regie an unsichtbaren Strippen geführt. Nur Karl Bergmann scherte sich nicht um den von der Vorsehung beschlossenen Cordon sanitaire und setzte sich bei dem Bankett zu N.N. Sie sprachen wenig.
(W.H., FEGEFEUERNACHMITTAG Mein Leben. Von ihm selbst erzählt, Berlin 2009, S. 159 f.) So wollte es Nathan Niedlichs Erinnerung wissen.

Noch eine Passage aus Karl Bergmanns Festrede: …will ich nicht zögern zu bekennen, daß von allen Verlagen meines Weges -und deren waren ja etliche -mir Nihstroff nicht nur in besonderem Maße, sondern in singulärer Art das geworden ist, was ein Verlag seinem Autor sein kann: Heimat. Dafür möchte ich Nihstroff danken.
Das überraschte, denkt sich N.N., indes er verlegen die streng geheimen Papiere aus dem Ministerium für Staatssicherheit zum Rascheln bringt, am 2. September 1981 Gen. Harry F., in der ersten Reihe sitzend, Leiter des so gerühmten Verlages, nicht. Ist er doch erst vor wenigen Tagen vom stellv. Minister für Kultur, Gen. Klaus H., im Auftrag der Hauptabteilung XX des Ministeriums für Staatssicherheit damit beauftragt worden, Einfluß auf den Wortlaut der Festrede seines Autors Karl Bergmann zu nehmen. Zu dem Heimatbekenntnis, so der Verlagsleiter Gen. Harry F. am 27. August 1981 mit kaum verhohlenen Stolz zu seinem stellv. Kulturminister Gen. Klaus H., habe den Laudator Bergmann niemand nötigen müssen. Darf ein Autor, fragt sich N.N., behaupten zu wissen, was in so einer miesen Figur wie Harry F. in diesem Moment vorgeht? Triumph? Verachtung? Indolenz? Bewunderung? Geschmeicheltsein? In einer Figur, die erfinden zu müssen, man selbst seinem Rivalen im Literaturbetrieb nicht wünscht?

Aus den streng geheimen Papieren des Ministeriums für Staatssicherheit vom
5. 9. 1981: Die Rede Bergmanns, die in den übrigen Passagen Fakten zur Geschichte des Nihstroff-Verlages enthielt, führte unter den ca. 100 Teilnehmern der Festveranstaltung zu keinerlei negativen Reaktionen.

Als Kind hatte sich Nathan Niedlich oft ausgemalt, wie sein Leben im Jahr zweitausend sein würde, an einer mythischen Zeitgrenze. Er hätte, so sah es die Phantasie des Kindes vor, dann alles erreicht, was er wollte, und schaute zufrieden auf sein Dasein und seine Karriere zurück. Er wäre dann achtundvierzig Jahre alt und der Rest friedliches, greisenhaftes Verdämmern. Schmerzlos und unvorstellbar. Als das Jahr zweitausend sehr nahe herangerückt war, mit dem Lärm und dem Taumel der weltweit grassierenden Millenniumserregung und der billigen Magie der vielen Nullen, beschloß N.N., es mitzuschreiben und Aufzeichnungen anzufertigen. Unter dem Arbeitstitel „Das letzte Jahr“ notierte N.N. den Ertrag seiner Weltseitenblicke des Jahres zweitausend in eine schöne, in Leinen gebundene und mit einem blaßroten Rücken ausgestattete Kladde, die ihm, etwa zwanzig Jahre früher, Karl Bergmann geschenkt hat. Nathan Niedlich hatte das Album lange gehütet; nun, drängte ihn etwas Intuitionsähnliches, war es an der Zeit, den Blindband mit einer Niederschrift zu füllen. Als das Buch mit den Aufzeichnungen aus dem Jahr zweitausend, weitere zehn Jahre später, unter dem Titel „Die eigene Geschichte“ erschien, dem Gedächtnis Karl Bergmanns gewidmet, ein nachgetragener Dank für das Geschenk der Kladde, erhielt N.N. Post von dem Schriftsteller Ingo Schulze, just auf dem Sprung zum Literaturdirektor der Berliner Akademie der Künste: Die Widmung sei gut und wichtig, denn die Bedeutung des unter Zeitgenossen leider kaum bekannten Autors Karl Bergmann sei gar nicht hoch genug zu veranschlagen. Das war alles zum Buch. Der joviale Zuruf eines Chefs.

Aus den streng geheimen Papieren des Ministerriums für Staatssicherheit der DDR vom 5. 9. 1981, das Auftreten des Schriftstellers Karl BERGMANN während der Feierlichkeiten zum 150jährigen Bestehen des Nihstroff-Verlages Schwerin am 2. 9. 1981 betreffend: Trotz der durch Gen. Harry F. gegenüber Bergmann geforderten Änderungen wurde festgestellt, dass dieser in seiner Festrede nur die unter Punkt 1 und 4 aufgeführten Formulierungen
weggelassen hatte.


Punkt 4. Streichung des Namens Nathan Niedlich, den Bergmann als einzigen namentlich benannt und

Karl Bergmann, Jurek Becker, Klaus Schlesinger (s. Punkt 1) und Wolfgang Hilbig sind tot und werden manchmal, sehr selten, gelesen. Ingo Schulze amtiert als Literaturdirektor der Berliner Akademie der Künste. Nathan Niedlich lehrt als Akademischer Obrerat am Seminar für Allgemeine und Vergleichende Religionswissenschaft an der Universität Lüneburg. Die DDR und das Ministerium für Staatssicherheit sind tot, sie spuken allerdings von Zeit zu Zeit in der Gegenwart noch fort. Martin Luther irrte, als er das Jahr zweitausend als das letztmögliche nominierte, vor dem Anbruch der Ewigkeit.

Punkt 4. Nathan Niedlich konnte nicht länger daran zweifeln, dass er sich verhört hatte, am 2. 9. 1981 in Schwerin. Was war es, das sich in ihm so lange gesträubt hat, Bergmanns Rede Wort für Wort nachzulesen? Eine Widmung. Ein Herzstich. Eine gönnerhafte Geste des Chefs. Eine biographische Extrasystole, mehr nicht, aber auch nicht weniger. Eine nachgetragene Fußnote zu „Die eigene Geschichte“. Eine Bagatelle ohne Tonart.

Ein semantisches Gefälle, vom dankbaren Bekenntnis eigener Lebensfülle zum Pejorativ der Verzagtheit und des Überdrusses: Ich habe genug. Mir fehlt es an nichts; es reicht. Johann Sebastian Bachs gleichnamige Kantate (BWV 82); darin heißt es: „Schlummert ein, ihr matten Augen, fallet sanft und selig zu…“ Zuvor aber, bleibt zu hoffen, möge gegolten haben, was Gottfried Keller im Vers so faßte: „Trinkt, ihr Augen, was die Wimper hält, von dem goldnen Überfluß der Welt.“
Wer zur Intoleranz neigt, mag Zoten. Diese Vermutung habe ich bei Franz Fühmann gelesen, und sie leuchtet mir sofort ein.

Gar nicht leicht zu entscheiden, was man an Martin Walsers Opportunismus mehr bewundern soll: die Artistik oder die Unverfrorenheit. Das meinungsklimafühlige Bodenseeorakel kommt periodisch als sprachgewaltiges Sturmtief, Deutsch-Südwest, über seine Landsleute, bläst seinen Haß auf alles, was nichts als Meinung ist, breit, und läßt sie fauchend und krachend spüren, woher der Wind resp. Geist wirklich weht. Ob gefühlte Nähe zur DKP, Auschwitzkeule oder süßes Frauenkirchengeläut von drüben, bei Martin Walser hatte alles seine Zeit. Und jetzt, da die aristokratische Pose im Volk wieder etwas gilt, gibt Martin Walser einem dankbar erschauerndem Publikum bekannt, dass an seinem Herzensstammtisch nun Ernst Jünger neben Franz Kafka sitze. Und Walser wäre nicht Walser, ließe er unerwähnt, wie sehr es ihn heute schmerze, dass Jünger, der Drogenabenteurer, als sie einander während einer intimen Abendgesellschaft im Hause eines Pharmamanagers einst gegenübersaßen, gar nicht anders konnte, als ihn, Walser, für einen Gruppe-47-Flegel zu halten, wiewohl er damals schon dissidentisch gesinnt gewesen sei. Doch von solchen Feinheiten aus den Mannschaftsstuben des Zeitgeistes Notiz zu nehmen, sei einer auf der Kommandohöhe Jüngers selbstverständlich nicht verpflichtet gewesen. Walser erkennt bei Jünger, mit Benn gesprochen, auf „absolute Prosa“. Mir fällt ein, was Hans Krieger kürzlich zu Tellkamps „Turm“ geschrieben hat: „Solch verbales Imponiergehabe einer permanent sich selbst überbieten wollenden Ehrgeizprosa nennt man normalerweise Kitsch. Dass man es bei Tellkamp nicht Kitsch, sondern sprachmächtige Meisterschaft nennt, ist wohl nicht allein dadurch zu erklären, dass es sich sozusagen um promovierten Kitsch, um Exzellenzkitsch, um Hochleistungskitsch handelt, dessen Chuzpe des Übertrumpfens eine beachtliche Blendwirkung entfaltet. Es steckt noch mehr dahinter…“

Sommer 1987, Villa Massimo: Ernst Jünger, zweiundneunzig, ist für ein paar Tage in der deutschen Künstlerresidenz zu Gast; er wird in Rom mit einem Preis geehrt. Direktorin Wolken lud zu einem Empfang. Der Meister, immer im unsichtbaren Schlepptau seiner Frau und seiner Sekretärin, klein, energisch und beweglich, keine Schwäche zeigend; das Marschieren ist im Alter zu einem gravitätischen Trippeln geschrumpft oder gereift. Ein vor langer Zeit gründlich aufgezogener Soldat, der unbeirrt durch einen endlosen Frieden schnurrt. Hans Bender, damals Ehrengast in der Villa Massimo, Jahrgang neunzehn, blieb dem Empfang fern, ohne Aufhebens davon zu machen. Schützengrabenpflichtlektüre hätte ihm die Begegnung verleidet. Ich erkundigte mich bei Ernst Jünger nach seinem Zusammentreffen mit Jorge Luis Borges, der kürzlich in Europa gewesen ist und außer Jünger kaum jemanden sprechen wollte. Am nächsten Tag läutete ein Kurier der Deutschen Botschaft an der Pforte und überreichte mir ein Kuvert: ein postkartengroßes Foto, das Jünger und Borges zeigt, signiert. Die Aufnahme ist verschollen.

Ein harter Winter – 1788 / 89 trieben Eisschollen auf der Seine, und die Lagune von Venedig fror zu -lief der Revolution voraus.

In Meißen hat es gescheppert: Vor Monatsfrist rätselten bestürzte Einwohner über ein Geräusch aus der Porzellanmanufaktur, das in der ganzen Stadt zu hören gewesen ist. Ein sächsischer Porzellanberg aus unverkäuflichen Beständen blockierte die Lager, und Marktphilosophen befahlen zu handeln. Sie ließen es richtig krachen, in der Meißner Porzellanmanufaktur.

Grass‘ Zwillinge. Beim Zappen gerate ich in eine Gewinnshow, in der das Bescheidwissen der Kandidaten geprüft und, falls sie bestehen, belohnt wird. Zwei Männer, vielleicht Mitte Vierzig, einander sowohl in Kleidung als auch in fröhlich trompetender Mittelmäßigkeit verblüffend ähnlich, alerte Zwillinge aus der Eifel, nicht zu unterscheiden auch in ihrem notorischen Bemühen, als gut gelaunt zu erscheinen, versuchen, zweihundertsiebzigtausend Euro zu erbeuten; am Anfang war es eine Million, sie haben schon einiges verspielt. Sie einigen sich, nachdem ich zugeschaltet bin, auf die Rubrik Leselust und sind gespannt. Ich auch. Vier Titel werden eingeblendet: „Grimms Wörter“, „Rembrandts Nacht“, „Schmelings Niederlage“ und „Brandts Kniefall“. Die Frage lautet: Welcher trifft auf das jüngste Buch von Günter Grass zu? Ein den Anschein des Informiertseins tapfer behauptendes Grinsen flackert über zwei betretene Gesichter; kopierte Einfalt, die sich noch mit der eigenen Ahnungslosigkeit prächtig zu amüsieren vorgibt. Um keinen Preis der Welt wie ein Spaß-und Spielverderber wirken!; der kategorische Imperativ der Gesellschaft des Spektakels, doppelt inkarniert. Schließlich verständigen sich die Zwillinge -Zeit ist Frist -auf „Schmelings Niederlage“, oder „Schmelings Schmerz“, so genau weiß ich das nicht mehr. Von Schmeling, so die Begründung der Kandidaten, sei in der letzten Zeit viel die Rede gewesen. Technischer k.o. für Grass, in der fünften Raterunde.

Advent. Deutschland rüstet sich festlich, der Terrorismus naht.

Ewigkeitssonntag, Groß Flottbek. Drei Kirchenbankreihen vor mir sitzt ein Mann, graubärtig, leicht gebeugt, vermutlich älter als ich, in eine Art mit großformatigen rotweißen Karos gemusterte Wattejacke gehüllt, stark kurzsichtig, der Statur seiner klobigen Brille nach zu schließen. Plötzlich zückt der Mann ein optisches Instrument, das er in seiner Jackentasche aufbewahrte, ein modernes Piratenfernrohr, für ein Auge. Die Brille in der linken Hand und das linke Auge zugekniffen, setzt der Mann das Fernglas an, reguliert die Sehschärfe und betrachtet eine ganze Weile Jesus Christus über dem Altar; weniger kunsthistorisches Interesse als eher ein naiver Versuch, hinter das Geheimnis dieses ewigen Sohnes zu kommen, am Totensonntag, nach meinem Eindruck.

Von einem Balkon am Nachbarhaus baumelt eine Strickleiter herab, und ein zwergwüchsiger Weihnachtsmann, oder wer immer sich hinter dieser Vermummung verbirgt, hat schon die oberste Sprosse erklommen und wird im nächsten Moment die Wohnung entern. Jemand kann es kaum noch erwarten, als Geisel genommen zu werden.

Manchmal ist der November für Überraschungen gut, deren Urheber verdächtige, vielleicht sogar gefährliche, weil nicht recht auszumachende, rätselhaft diffuse Subjekte sind. Da schiebt jemand dem Politbüromitglied Schabowski einen Zettel unter, und die deutsche Mauer öffnet sich. Da erscheint, von niemandem autorisiert, im Osservatore Romano eine knappe Meldung, daß der Papst sich anschickt, das strikte Kondomverbot für Katholiken zu lockern -und stiehlt den neuernannten Kardinälen die Show. Der Geist rauscht, knistert oder kichert, wo er will.

Selbst noch der Chronist der friedlichen Revolution in Sachsen, M.R., heute wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung zu Dresden, ist IM gewesen. (Schämt Euch! Diese flehentliche Aufforderung der Demonstranten vor den Stasihochburgen, als hätten sich dort ungezogene Kinder versteckt, verkörpert die vulgärkommunistische Gesamtinfantilisierung und hört sich wie ein fahles Echo aus einem psychopathologischen Abgrund aus Lauterkeit an. Ein Versatzstück aus dem Jargon der Parias, jener Insassen finsterer Zeiten, die Hannah Arendt in ihrer Lessingpreisrede präzise beschrieben hat, als hochmoralisch und verantwortungslos, an den Lagerfeuern der eigenen Herzlichkeit, diesen schrecklichen Weltsurrogaten, herumlümmelnd.) M.R., IM „Friedliche Revolution“, verkaufte, mit einem feinen Näschen für Marktchancen, was Profit versprach: Manuskripte von Rudolf Bahro, das Notizbuch eines Freundes (eigens dafür abgeschrieben), „Die Geschichte der Ost-CDU“. Und die für ihre Sanftheit gerühmte Revolution in Sachsen. Ministerpräsident Tillich hat das Standardwerk als Schullektüre empfohlen.

Verkaufsoffener Ewigkeits-resp. Totensonntag: Ein Maler lädt seit Jahren zu diesem Datum gut betuchte Schaulustige in sein Wohnatelier von nobler Weitläufigkeit ein, und ein Schriftsteller spricht über einen Aspekt oder seine Ansichten der dar-und feilgebotenen malerischen Jahresproduktion. Diesmal ergreift ein Kollege das Wort, dessen sonore Stimme vor Begeisterung tänzelt und wippt, dass sie gleich so kluge Dinge vorbringen darf. Der anschwellende Lobpreis auf das Werk des Malers erfindet sich, vom Narzißmus des Schriftstellers imprägniert, eine eigene ästhetische Kategorie und überrreicht sie, in rhetorisches Geschenkpapier gehüllt, dem dankbar erheiterten Publikum: den Tatort. Das Geheimnis dieser Kunst beruhe auf dem Umstand, dass sie Tatorte sichtbar mache; reine Indizienprozesse, keine Urteile. Auf einer Glatze Locken drehen -selten schien mir Karl Kraus‘ Verdikt, was ein Feuilleton sei, so zutreffend wie beim Hören dieser Laudatio.

In Hamburg wird derzeit zehn Somaliern der Prozeß gemacht, die am Ostermontag schwerbewaffnet im Golf von Aden die MS Taipan gekapert haben, ein deutsches Handelsschiff, um es auszurauben und die Besatzung als Geiseln zu nehmen. Endlich wieder Piraten in der Hansestadt, eine Sensation. Der jüngste der von holländischen Marinesoldaten überwältigten Seeräuber, Profis allesamt, gibt sich als dreizehn aus. „Geboren in der Regenzeit, unter einem Baum.“ Vor dem Landgericht demonstrieren antiimperialistische Freischärler, darunter ein „Freundeskreis der Subsistenz -Piraterie“. Ein Seitenblick durchs Fenster, und ich sehe, dass der wackere kleine Weihnachtsmann auf der Strickleiter den Balkon am Nachbarhaus immer noch nicht geentert hat. Ein Stümper, dem dringend ein Praktikum an der Küste Somalias empfohlen sei.

Opportunismus, Selbststilisierung, bullshit und Lüge in den Zeiten der Gruppe 47; vor bald zwanzig Jahren galt W.G. Sebalds Hinweis auf Alfred Anderschs Umgang mit der biographischen Wahrheit als skandalös, ein Beleg für die bösartige Querulanz eines Auslandsgermanisten. Nun geben neue Quellenfunde Sebald in jeder Hinsicht recht. Jahrelange Recherchen haben keinen Beleg für Anderschs Behauptung erbracht, er sei Spitzenfunktionär im Jugendverband der KPD gewesen, und auch die angeblich dreimonatige Haft in Dachau läßt sich nicht durch Fundstücke belegen, weder durch die Polizei-und Parteiakten noch durch Gefängnis-und Häftlingsbücher.

Träfe zu, was der kanadische Militärhistoriker Gwynne Dyer in seinem Buch „Schlachtfeld Erde. Klimakriege im 21. Jahrhundert“ prognostiziert, so hätte man gute Gründe sich zu freuen, dass das hoffentlich gnädige Ende so fern nicht mehr sei: Ich hab genug. Gelingt es nicht, so Dyer, die Welt vollständig zu dekarbonisieren und den CO 2-Verbrauch pro Weltbewohner weit unter die Menge zu drücken, die heute jeder Einzelne im Westen für sich beansprucht, so wird die zweite Hälfte des 21. Jahrhunderts zu einer Zeit, in der gelebt zu haben sich keiner wünschen kann. Selbst wenn heute eine radikale Karbonreduktion gelänge -wofür wenig spricht -, könnte das Klima vierzig Jahre lang toben und die Menschheit durch Katastrophen taumeln lassen, ehe es sich bessert. Wäre die Politik auf eine solche Zivilisationskrise vorbereitet, und welche Schäden fügte ein Phänomen wie Mitleidsmüdigkeit dem Fundament unserer Gesellschaft zu? Dyer hat zehn Jahre für sein Buch recherchiert, in Politik und Wissenschaft, Administration und unter Militärs, und er stellt sieben denkbare Szenarien und ihre Konsequenzen dar, jenseits von Schuldzuweisungen, Vorwurfspathos und apokalyptischem Prunk. Persönliche Einreden nicht scheuend, einem präzisen Sarkasmus verpflichtet, in bester angelsächsischer Manier.

Stößt ein Igel auf eine ihm bislang unbekannte olfaktorischen Note, vollführt er eine Art linkische Judorolle und spuckt sich seitlich auf die Schulter. Eine Erklärung für dieses sonderbare Verhalten ist der Igel dem Menschen bis heute schuldig geblieben.

Eine Eintragung aus dem zweiten Tagebuch von Friedrich Schleiermacher: „So wie viele sagen: ‚das verstehe ich nicht, also taugt es nichts‘, so sagen andere: ‚der versteht mich nicht, also taugt er nichts‘. Was ist wohl anmaßender?“ Meine Ausgabe -Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Bruchstücke der unendlichen Menschheit / Fragmente, Aphorismen und Notate der frühromantischen Jahre, Union Verlag Berlin 1984, Printed in the German Democratic Republic – schmückt sich mit Grafiken von Johannes K.G. Niedlich. Bei Gelegenheit will ich Nathan fragen, ob er mir mutwillig verheimlicht hat, dass er mit einem mittelmäßigen Illustrator verwandt ist. Aber vielleicht ist der Name Niedlich einfach ein künstlerischer Sammelbegriff. Novalis hielt die Bibel für unabgeschlossen, ein noch im Werden begriffenes Buch. Schleiermacher äußerte in seinen „Reden über die Religion“ von 1799, dass der Fromme nicht nur hellhörig sei, was heilige Texte betreffe, sondern dass ihn sein Glaube dazu begabe, selbst an heiligen Schriften weiterzuschreiben.