Übersicht Montag 05.10.2015

Oktober

Taschenbuch 2010 / Aufzeichnungen

Es kommen kürzere, von Dämmerung und Dunkelheit angefressene Tage. Dass die Länge eines Erdentages pro Jahrzehnt um etwa drei Millisekunden zunimmt, weil sich die Rotation unseres Planeten chronisch verlangsamt, ist ein schwacher Trost.

Mancher Tag will deutlich werden, bis an die Grenze der Penetranz. Heute, beispielsweise. Am Vormittag wische ich mir mit einer mich selbst überraschenden, unwillkürlichen Handbewegung die Lesebrille aus dem Gesicht, und das rechte Glas zerbricht beim Aufprall auf dem Parkett. Kein Schlag, eher eine tangentiale Berührung. Ein unkontrolliertes, womöglich unkontrollierbares Armschlenkern, das, ängstlich betrachtet, als Vorbote einer üblen Nervenkrankheit gelten könnte. Ridotto generico. Kaum zwei Stunden später neigt sich, gerade als ich aufsteigen will, der Sattel meines Fahrrades sacht nach hinten, eine vollendete Gebärde des Überdrusses, und beim Versuch, ihn zu richten, fällt der Sattel einfach ab. Ein glatter Ermüdungsbruch. No ideas but in things, heißt es bei William Carlos Williams.

Meeresbiologen führen eine Volks-und Artenzählung in der Tiefsee durch, ein großangelegter ozeanischer Zensus. Wie kaum anders zu erwarten, kommen dabei zahllose der Wissenschaft bislang unbekannte Lebewesen ans Licht, darunter schräge und bizarre Erfindungen der Natur, groteske Einfälle der Schöpfung. Eine deutsche Forscherin, die an dem Projekt beteiligt ist, heißt Brigitte Ebbe.

Traum: Vor meinem rechten Auge beginnt die Welt unangenehm zu flackern, ein künstliches Wetterleuchten hebt an. Panisch begebe ich mich in eine Augenklinik. Nach einer gründlichen Untersuchung erklärt mir der Chefarzt, dieses Leiden habe lange als unheilbar gegolten. Erst kürzlich habe sein Team eine erfolgversprechende Behandlungsmethode entwickelt, eine Kombination aus avancierter Operationstechnik und einem spektakulären Naturheilverfahren. Dabei komme ein zahmer Fuchs zum Einsatz; er knabbere dem Patienten faules Fleisch aus der Augenhöhle und reinige den Hintergrund. Während ich dem Chefarzt zuhöre, umringen mich sieben oder acht muskulöse Männer in fenchelfarbenen Kitteln. Einige reiben sich vergnügt die Hände.

Goethe, so erfahre ich von Eckart Kleßmann, beschäftigte sich intensiv mit der ersten Übersetzung des Korans aus dem Arabischen ins Deutsche, die im September 1771 in Frankfurt erschienen ist. Er entwarf sogar eine Tragödie: „Mahomet“.

Gegen Mittag steht Nathan Niedlich unangemeldet und schlecht gelaunt vor der Tür, und er lädt sich bei uns zum Essen ein. Der Freund hält mit dem Motiv seiner Verstimmung nicht lange hinter dem Berg: Seine Süddeutsche -er sei seit vielen Jahren treuer Abonnent wie ich auch -habe es heute für angezeigt gehalten, ihm sein Exemplar ohne die auf der Titelseite fett und grün versprochene Literaturbeilage zuzustellen. Dabei grinst N.N. dummschlau, dass ich ihn am liebsten ohrfeigen würde.

Der Geruch des Alls, hat Astronaut Don Petit, von einem Arbeitsaufenthalt auf der Internationalen Raumstation zurückgekehrt, berichtet, erinnere ihn an den einer frischen Schweißnaht. Wenn dieser olfaktorische Vergleich erst einmal pfiffigen Religionspädagogen in die Hände fällt Zwei oder höchstens drei Mal sind wir in der Trattoria „O Sole mio“ am Ende der Bachstraße eingekehrt. Die Einrichtung wirkte ein wenig unentschieden, zwischen Bistro und Pizzeria schwankend; die Küche war in Ordnung. Nun erweist sich der biedere und kulinarisch unspektakuläre Italiener als Firmensitz: die norddeutsche Zentrale der Camorra. Die Scientologen im Haus, die Camorra vor der Tür -Barmbek-Süd, munkelt man, sei ein aufstrebender Stadtteil und ein deutliches Indiz dafür nicht zuletzt, dass überall gebaut werde. Auf unserem Dach rumort es infernalisch.

Der Fluch des Bestsellers: Als der weltweit erfolgreiche Schriftsteller J.F. über seinen literarischen Rang sprechen wir uns in hundert, hundertfünfzig Jahren wieder -in der Londoner Serpentine Gallery seinen neuen Roman vorzustellen versuchte, wurde er Opfer einer räuberischen Attacke und eines Erpressungsversuches. Ein nicht näher beschriebener Mann riß dem einundfünfzigjährigen Literaturstar die Hornbrille von der Nase und flüchtete. In einem am Tatort gefundenen Erpresserbrief forderte der dreiste Dieb ein Lösegeld von einhunderttausend Pfund für die noble Sehhilfe. Der beraubte Autor sei, nach Augenzeugenberichten, extrem verstimmt gewesen. Ein weiteres britisches Mißgeschick hatte vermutlich sein Teil zu dieser miesen Verfassung des Erfolgsverwöhnten beigetragen: Kurz vor der Londoner Buchpremiere mußten achtzigtausend Exemplare des neuen Romans „Freiheit“ aus dem Handel zurückgerufen werden, da versehentlich eine unkorrigierte Version in den Druck gegangen war. Der räuberische Erpresser tauchte für eine kurze Weile mit der entwendeten Brille unter, in dem See vor den Toren der Serpentine Gallery, aber es half ihm nichts. Die Polizei fischte ihn heraus. Noch ist das Urteil nicht gefällt, aber ob es sich um eine Geldbuße oder um ein auf Bewährung verhängtes Strafmaß handeln mag, es läuft in jedem Falle auf eine „Freiheits“- Strafe hinaus.

Steven Pinker, Psychologe an der Havard University, glaubt belegen zu können, dass es zu keiner Zeit in der Menschheitsgeschichte so gewaltlos zuging wie heute, aufs Ganze gesehen.

Betörende Herbsttage, randvoll gefüllt mit destilliertem Licht. Die tiefstehende Sonne besticht die Augen und greift die Farben an, so dass sie still glühen oder wild auflodern. Ein Mann, zu dem mir weiter nichts einfällt, lehnt, nachmittags gegen halb Vier, am Geländer einer Brücke, die den Osterbekkanal überquert, und er zündet sich eine Selbstgedrehte an. Die Linke hat eine Bierflasche lässig am hals gepackt. Ich rauche schon lange nicht mehr, und ich möchte mit dem Fremden nicht tauschen. Aber unglücklich schaut der Mann, der sich so die Zeit vertreibt, nicht aus.

Antonina Piroschkowa, Jahrgang 1909, Mathematikerin, ist aus Sibirien nach Moskau gekommen, um beim Bau der Metro zu helfen. Dann lernte sie Isaak Babel kennen unwurde seine zweite Frau. Als Babel 1939 ins Lager verschleppt, gefoltert und bald darauf ermordet wurde -was Antonina Piroschkowa erst 1955 erfuhr -, war sie dreißig und die gemeinsame Tochter zwei. Am 12. September ist Antonina Piroschkowa im Alter von einhundertundeins Jahren in Florida gestorben.

Aus der Hochschule geplaudert: Hinter dem Raum mit den Postfächern der Dozenten und den Kopierern befindet sich, jenseits einer Glastür – ein Pappschild mit einem grünen Kreuz deutet eine humanitäre Bestimmung an, ein Kabuff namens Still – und Wickelraum. Ein trostloses Abstellzimmer, Vorratskammer für Kopierpapier. Altersschwache Aktenschränke, die nichts zu verbergen haben. Eine mit grobnarbigem, bordeauxrotem Kunstleder bespannte Pritsche, ein klinisches Zitat. Jemand hat ein fliedersektfarben bezogenes Kissen auf das steil aufgerichtete Kopfende der Liege gelegt und darauf einen sauber abgeschlagenen Gipskopf gebettet, klassizistisch geformt, keine Miene verziehend, von makelloser Hässlichkeit.

Traum: U. ist im Begriff, eine Wohnung von K., dem ranghohen Scientologen, zu kaufen, als seien alle ihre, U.s, Erinnerungen ausgelöscht. Ich sitze, schräg versetzt und schreckensstarr, hinter K.s Rücken, und es gelingt mir nicht, U. zu warnen. Allein der Füller, den K. U. gleich reichen wird, damit sie den Vertrag unterschreiben kann, kostet, wie ich auf einem kleinen Schild außerhalb von U.s Gesichtsfeld lese, 87,- Euro Miete, für den einmaligen Gebrauch.

Das stunden- und tagelange Pflastertreten in fußbettlosen Sandalen, durch Florenz und Venedig, schlug sich bald in einem stechenden Schmerz nieder, der meinen linken Fuß peinigte, in der Region aufflackernd und weiterglimmend, wo die Zehen beginnen. Weil die Symptome nicht so recht verfliegen wollten, suchte ich etliche Wochen später einen Orthopäden auf, in der harmlosen Vermutung, mir sei mit neuen Einlagen zu helfen. Der Arzt betastete die Schwellung und verordnete mir Lymphdrainage und ein Spiral-CT, für eine Differentialdiagnose. Nach der Untersuchung bat mich der Radiologe, kaum schlanker als ich, zu einem Gespräch. Man sehe es zwar nur auf einigen wenigen Bildern, aber es handle sich zweifelsfrei um eine Streßfraktur, auch Ermüdungsbruch genannt. Unter Kellnern als Berufskrankheit geläufig. Ich mußte den Röntgenbilddeuter so fassungslos oder bekümmert angeschaut haben, dass er glaubte, ich bedürfte seines Trostes: Es gibt Schlimmeres, gab er mir lakonisch mit auf den Weg, bevor ich aus der Praxis humpelte. Das hatte ich schon, sagte jemand aus mir heraus, schneller, als ich einen klaren Gedanken fassen konnte. er britische Journalist Peter Gill untersucht in seinem Buch „Famine and Foreigners: Ethiopia since Live Aid“, was, am Beispiel Äthiopiens, die popgestützte Entwicklungshilfe bewirkt hat, und seine Befunde bestärken mich in meiner Abneigung gegen die emphatischen Posen der Mitleidsimperialisten samt ihrer coolen Millionenspendenhippness a la Bono, Bob Geldof e tutti quanti. Bob Geldofs Single „Do They Know It‘s Christmas“ vom November 1984 war der Auftakt für die Live Aid -Kampagne. „Die Äthiopier wußten sehr wohl, dass Weihnachten war, schließlich verhungerten ja vor allem Christen“, kommentiert Peter Gill trocken. Einhundertundzwanzig Millionen Dollar brachte Live Aid damals etwa ein. Die äthiopische Regierung nutzte diesen unerwarteten Geldregen, um hunderttausende Menschen aus dem notleidenden Norden mit militärischer Gewalt in den Süden umzusiedeln. Was den Hilfsorganisationen gegenüber als Kampf gegen den Hunger deklariert wurde, diente hauptsächlich dazu, die Bevölkerung in den aufständischen Regionen auszudünnen. Von der größten Deportation seit dem Völkermord der Khmer Rouge sprach die französische Sektion der „Medecins sans Frontiers“, die damals unter Protest das Land verließ; sie habe fünfzig-bis hunderttausend Menschen das Leben gekostet. Geldof indes kanzelte einen Reporter der „Irish Times“ und seine Zwischenfrage mit der Bemerkung ab, „Wir sollten Hilfe leisten, ohne uns den Kopf über Bevölkerungstransfers zu zerbrechen.“ So spricht der gegen Erfahrung und Belehrung resistente, mit Narzißmus versiegelte Hochmut eines Ideologen des Spektakels. Später, nach dem Live -8 -Event von 2005, huldigten Geldorf, Bono, Madonna und Tony Blair dem äthiopischen Präsidenten Meles Zenawi, der gerade ein Blutbad an der eigenen Bevölkerung angerichtet hat, anläßlich von Wahlen. Wenn Hilfsgelder Afrikas Probleme lösten, so wäre es ein reicher Kontinent, sagt der Journalist Richard Dowden. Jeder lebende Afrikaner hätte inzwischen rund fünftausend Dollar erhalten. Hätte, wenn. Sämtliche finanziellen Hilfen in den nächsten fünf Jahren einstellen, außer bei Naturkatastrophen, fordert die afrikanische Ökonomin Dambisa Moyo. In einer funktionierenden Demokratie der Moderne sei es noch nie zu einer Hungersnot gekommen, so lautet ein Diktum des Wirtschaftsnobelpreisträgers Amartya Sen.

Ich erinnere mich an die Fernsehübertragung einer Welthungergala von der Berlinale. Während irgendein Bono etwas klimperte, räkelte sich Sharon Stone lasziv auf dem Flügel. Clint Eastwood, hieß es, sei der Spendenparty ferngeblieben. Man habe ihn aber soeben in einem Lokal gesichtet, wo er allein und seelenruhig ein Steak verzehrte.

Post von Nathan Niedlich. Viel ist es nicht, was er derzeit schreibt, falls er mir alles zeigt.

Beklagt
Dass Dirk P., ein weitläufig mit Ida verwandter erfolgreicher Locationscout, Ende Vierzig, ihn, N.N., fünfundzwanzig Jahre nach seiner Trennung von Ida und sechs Monate nach ihrem frühen Tod, nicht vergessen hatte und zu einer Party in seine, Dirks, Etagenwohnung in Ottensen einlud, rührte N.N. so sehr, dass er hinging, um mit Wildfremden, was sonst nicht seine Art war, zu feiern. Es wurde viel getanzt, getrunken und getrommelt. Wer nicht gut drauf war, konnte nur selber daran schuld sein. Am Kamin las ein ambitionierter Immobilienerbe aus Bad Oldesloe selbstgeschriebene Geschichten vor, von einem sexuell unersättlichen Buckelvolvo, der es im Alter immer doller trieb, und der Autor hörte damit erst auf, als das Auditorium weniger als drei Personen zählte. Nach einer Weile bemerkte N.N., dass viele Veteranen unter den Gästen waren, Indienreisende von einst, Teilnehmer am Großen Poonischen Frieden, Antikreuzzug oder Antikreuzfahrt unter Palmen, spirituell verwurzelte Ureinwohner des Garten Osho, wo sich das Leben in einen Akkord aus Meditation, Massage und Meisterworten verwandelte.

N.N. schlenderte durch die sparsam möblierten Räume, wechselte hie und da ein paar Worte, immer auf der Hut, daß er nicht für einen gehalten würde, den gelegentlich Schuldgefühle heimsuchten oder ein schlechtes Gewissen plagte, denn nichts war in dieser Gesellschaft mehr verpönt, wie er schnell herausgefunden hatte. Der Weißwein war gut, ein Trebbiano aus den Abruzzen, von dem ein Creative Direcor der PR -Agentur LUXX aus der Speicherstadt etliche Kisten spendiert hatte, und die Gäste ließen es an Freundlichkeit nicht mangeln. Im Laufe des Abends sprach N.N. mit zwei Frauen, die beide behaupteten, einst Wickerts Geliebte gewesen zu sein, und er hörte sich den Bericht einer Tsunami -Überlebenden von 2004 an, die einen halben Tag in der Krone einer Palme ausgeharrt hatte. Was immer N.N. zu Ohren kam, es war phänomenal. Plötzlich entdeckte N.N. den Mann auf dem abseits stehenden Barhocker; er saß einfach da und starrte vor sich hin. Sein Zustand unterschied sich aber von der Pose eines schwer Betrunkenen, das sah N.N. sofort.

Der Barhocker befand sich ziemlich weit von dem Tresen entfernt, wo er hingehörte, und er wirkte wie ein schlecht erzogenes Haustier, das nicht gehorchen wollte. Der Mann auf dem Hocker war so sehr in der Aura seiner Abwesenheit interniert, dass niemand versuchte, ihn für das Fest zu gewinnen. Die Gäste wichen auf ihren Wegen dem Mann auf dem Barhocker vorsichtig aus, ohne ihn je zu berühren, wie einem scharfkantigen Gegenstand.

N.N. blieb in der Nähe des Mannes auf dem Barhocker stehen, und nach einer Weile öffnete dieser den Mund und begann zu reden. N.N. und der andere hatten zuvor weder Höflichkeitsfloskeln getauscht noch sich vorgestellt. In vier Tagen, sagte der Mann, halblaut und klar akzentuiert, müsse er sich als Beklagter vor dem Amtsgericht Pinneberg verantworten.


N.N. kommentierte diese Auskunft mit keiner Silbe und wartete ab, was folgen mochte. Ein läppischer Blechschaden, sagte der Mann, eigentlich kaum mehr als ein Kratzer am Lack. Das sei es, was er einem fremdem Audi beim Ausparken zugefügt habe. Eine Bagatelle, sollte man meinen. Aber der Halter des Audi habe vor Ingrimm gebebt, als er von dem Schaden erfuhr. Als sei er körperlich verletzt und tief getroffen. Er, der Schadensverursacher, habe alles pflichtschuldig seiner Versicherung angezeigt und sich um rasche Regulierung bemüht. Dann aber habe er Post vom Anwalt des Audi-Halters bekommen: Sein Mandant weigere sich, mit seiner, des Verursachers, Versicherung in Kontakt zu treten, und das sei ihm auch nicht zuzumuten. Deshalb fordere er ihn auf, den Schaden von achthundertundachtzig Euro direkt zu liquidieren. Andernfalls werde er seinem Mandanten empfehlen, gerichtlich gegen ihn, mich vorzugehen. Er sei perplex gewesen, so der Mann auf dem Barhocker zu N.N., denn wäre er der Aufforderung des gegnerischen Anwalts gefolgt, hätte er jeglichen Versicherungsschutz verwirkt. Dies sei, in etwa, auch seine Antwort gewesen. Und dann sei ihm die Klageschrift des Amtsgerichts Pinneberg zugestellt worden. Ob er sich in seiner Fassungslosigkeit habe verständlich machen können?, insistierte der Mann auf dem Barhocker eindringlich, hob den Kopf und schaute N.N. ins Gesicht. Auch wenn es womöglich naiv klänge: Er fühle sich, als habe jemand seinem lebendigen Rechtsvertrauen das Fundament weggeschlagen. Nun sinke es langsam ins Bodenlose. Der Mann auf dem Barhocker verstummte wieder, als sei er mit der eigenen Auskunft, oder der Art, wie er sie erteilt hatte, nicht zufrieden. Eine Baritonstimme, wie aus Messing, sagte, Der Seehase sei in Wirklichkeit gar kein Hase, sondern eine Meeresschnecke. Jemand prustete los.

Ein Student, ehrgeizig, ambitioniert, sucht, nachdem er etliche Schreibwerkstätten absolviert hat, meine Sprechstunde auf. Er will mit mir über seine Diplomarbeit sprechen, ein überbordendes Ideenkonstrukt, das eine Erzählung oder gar ein Roman werden will. Ich staune nicht schlecht, denn ich weiß, dass sich dieser Student in Agenturen umgesehen hat und seine Zukunft als Werbetexter plant. Ich zaudere, ich zweifle, ich warne, ich verweise darauf, dass ich allenfalls als Zweitprüfer fungiere und er sich einen Designdozenten als Hauptprüfer suchen muß. Doch der Aspirant läßt sich durch keinen Einwand oder Vorbehalt beirren; nein, er wolle von mir beraten und betreut werden. Diese Sturheit beginnt mir zu imponieren. Was er erzählen will, ist eine Geschichte aus dem Bremer Alt-Achtundsechziger-Millieu, mit Kriminalplot, Ödipusanleihen und Elementen einer Indianersaga. Demonstrative Konzeptkunst, mit politischen Aromastoffen versetzt, so kommt es mir vor. Ich trage mein Mißtrauen gegen die Deduktion als Erzählverfahren vor. Es ist alles geplant, aber noch keine Zeile geschrieben. Da bricht es aus dem Romananwärter heraus, er kann seine Erregung kaum noch zügeln: Er kenne keinen Werbetexter, der nicht seinen Roman im Kopf habe. So auch er. Und er wolle das eben erledigen, bevor ihm die strapaziöse Berufspraxis, wie er sie kennengelernt habe, keine Zeit mehr dazu lasse. Also Autorenschaft aus dem Geist und im Dienst des Biografiedesigns; der Lebensabschnittsromancier als Souverän seiner Karriere. Der Kreative, eben. Später finde ich einen Punkt heraus, in dem meine Skepsis kulminiert: All das schlau Ausgedachte, das der noch ungeschriebene Text waghalsig und kunstfertig verquicken müßte, ist allein dem Ehrgeiz des potentiellen Autors verpflichtet, ein egomanisches, mit Fleiß und Mühe verleimtes Binnenphänomen. Der an der Schwelle seines Diploms stehende und gewiß nicht unbegabte Student, von seinem Selbstbewußtsein verwöhnt und leicht reizbar, mag hin und wieder ein Buch zur Hand nehmen, aber er ist kein Leser. Nicht die Welt des Textes begeistert ihn, sondern die Idee des eigenen Romans, die Selbstfeier der Urheberschaft.