Übersicht Freitag 06.04.2018

Schriftsteller im Öffentlichen Dienst

1992 spielte mir ein freundlicher Zufall eine Stellenausschreibung der Universität Tübingen in die Hände. Gesucht wurde ein Schriftsteller mit akademischen Interessen, der den Modellversuch „Studio Literatur und Theater“ leiten, curricular verfassen und in die Institutionalisierung führen sollte. Am Studium generale angesiedelt, war mit dem „Studio Literatur und Theater“ an einen Ort gedacht, der allen Studierenden der Universität zugänglich sei; die Kontur der alten Artistenfakultät schimmerte durch. Ein Ort, der – ob einer nun Ägyptologie, Biochemie, Philosophie oder Germanistik studierte – dazu einlud, spielerisch seine Möglichkeiten im Weltmedium Sprache zu erproben. Ein Ort, der das Schreiben zuerst und vor allem als eine Kulturtechnik begriff, die sich bilden und verfeinern lässt, und nicht länger mit dem deutschen Sonderweg romantischer Genieästhetik kokettierte. In meiner Terminologie: eine Werkstatt der Wörtlichkeit. Bei Ludwig Uhland, der 1830 / 31 an der Universität Tübingen etwas Ähnliches anbot, ebenfalls für Hörer aller Fakultäten, hieß es: Stilisticum.

Als ich auf die Stellenausschreibung aufmerksam wurde, lebte und arbeitete ich als freier Autor in Bremerhaven. Mit den Freuden und Risiken dieser Existenzform war ich seit etwa zehn Jahren vertraut. Wiewohl ich nur eine vage Vorstellung davon hatte, wie sich solch eine Anstellung samt Lehrverpflichtung mit dem eigenen Schreiben vertrüge, zögerte ich nicht mich zu bewerben. Und sich bei existentieller Unverträglichkeit von diesem Job wieder zu trennen, bekäme man ihn denn überhaupt, wäre gewiss ein Leichtes.

Der Taxifahrer, der mich dorthin brachte, wo ich der Findungskommission Rede und Antwort stehen sollte, raunte mir unterwegs sardonisch zu: In Tübingen beginnt sich der Mensch beim Doktor. Promoviert war ich nicht.

Im Januar 1993 nahm ich die Arbeit in Tübingen auf. Heute, an der Ruhestandsgrenze, schaue ich auf ein Vierteljahrhundert als Schriftsteller im Öffentlichen Dienst zurück, mit großer Dankbarkeit, dass ich dieses Doppelleben führen durfte.

Drei leere Räume, ein Mitarbeiter mit halber Stelle, Christian Hörburger, der für szenische und radiophone Angebote zuständig war, und ich – so hat es mit dem „Studio Literatur und Theater“ angefangen. Als ich über Gegenstand und Gestalt des Curriculums für eine studentische Schreibpraxis jenseits der Idiome und Jargons der Fakultäten nachzudenken begann, kam mir meine eigene Studienzeit wieder in den Sinn: medizinische Informatik in Dresden (DDR) und evangelische Theologie in Leipzig (DDR). Was hätte mich – der damals längst die Krume Größenwahn im Herzen trug, einst ein Schriftsteller zu werden – an solch einem Angebot in Sachen Handwerk des Schreibens gereizt und fasziniert? Dass dieser Impuls meine methodischen Überlegungen zum Curriculum einer Werkstatt der Wörtlichkeit recht gut gesteuert hat, fand ich später bestätigt, als ich an den Universitäten Austin/Texas und Iowa hospitieren und Erfahrungen austauschen durfte, dort wo Creative Writing längst fest im Lehrkanon verankert war.

Als ich im Herbst 1996 nach Hamburg wechselte, war das „Studio Literatur und Theater“ erfolgreich etabliert, und der Modellversuch stand an der Schwelle zur Institutionalisierung.

In Hamburg nahm ich den Ruf auf eine Professur für Verbale Kommunikation – ein hässliches Plastikwort aus den Siebzigern, das wir rasch vergessen wollen – am Fachbereich Gestaltung der Fachhochschule an; und bald werde ich als Professor für Poetik, Rhetorik und Creative Writing am Department Design der Hochschule für Angewandte Wissenschaften pensioniert, ohne nochmals die Stelle gewechselt zu haben. Ein Wahlpflichtfach, das künftigen Illustratoren, Comiczeichnern, Fotografen, Typographen, graphic-novel-Erzählern, Werbetextern, Game-Entwicklern, Animationsfilmern, Web-, Mode-, Textil und Kostümdesignern die Gelegenheit gibt, Bild-Text-Korrespondenzen zu reflektieren, als reisende Gesellen von Satzbaustelle zu Satzbaustelle zu ziehen, methodische Erfahrungen beim eigenen Erzählen zu sammeln, die Hellhörigkeit in allen Belangen des Wortlauts zu verfeinern, mit Weltliteratur in Berührung zu kommen und Poesie als einen eigenständigen Erkenntnismodus zu entdecken.

Inzwischen gibt es landauf landab etliche Dozenturen für Creative Writing, und das angelsächsische Verständnis, dass ein literarischer Text zwar im Handwerklichen nicht aufgeht, ohne handwerkliche Kenntnisse und Fähigkeiten jedoch scheitert, gilt als common sense. Was meine Lehrpraxis von den meisten dieser von Schriftstellern bewirtschafteten Professuren unterschieden hat: Ich war nie vor allem und intentional mit Autorenausbildung befasst, wie die Kolleginnen und Kollegen in Leipzig oder Hildesheim, um die beiden prominentesten literarischen Schreibschulen zu nennen. Es blieb im Laufe der Jahrzehnte nicht aus, dass sich in meiner Werkstatt der Wörtlichkeit gelegentlich ein literarisches Talent entdeckte oder eine Doppelbegabung zeigte – aber doch die Ausnahme. Literarizität war also nicht das entscheidende hochschuldidaktische Motiv meiner Lehre. Was aber dann? Bildung, lautet mein lapidares und erklärungspflichtiges Fazit. Genauer noch: Herzensbildung.

Lakonischer als der Religionspädagoge Fulbert Steffensky mit seinem treuherzig-durchtriebenen Diktum kann ich es nicht fassen: Lehren heißt, zeigen was man liebt. In meinem Probevortrag für die Hamburger Stelle riskierte ich die Aussage, dass ich das eigene Schreiben als den Forschungsanteil – und Glutkern – der Professur ansähe, fiele die Wahl denn auf mich. Man bekäme zuerst und vor allem einen Schriftsteller, und einen poeta doctus womöglich auch. Und so habe ich es dann auch gehalten. Damit rede ich nicht narzisstischer Virtuosität das Wort: Ich habe nie mit eigenen Texten in einer und einem meiner Schreibklassen oder Poetikkurse hantiert. Aber ich habe Formen und Themen in meine Werkstatt der Wörtlichkeit hineingetragen, deren existentieller Bezug zu mir und meinem Schreiben sich mitgeteilt hat. Und dann sprang der Funke über.

Seit ich zu unterrichten begonnen habe, sind neben der Einübung in eine eigene Schreibpraxis immer auch gemeinsame Lektüren konstitutiver Bestandteil der Werkstatt der Wörtlichkeit gewesen. Denn ich halte Lesen und Schreiben für zwei Aggregatzustände ein- und derselben Sache, und aus der Weltliteratur kommen die Muster und die Maßstäbe; woher sonst. Nach einem schönen Wort von G.K. Chesterton habe ich den Studierenden die Tradition als jene Demokratie nahezubringen versucht, in der auch die Toten ein Stimmrecht haben. Gern apostrophierte ich meine Lehre als eine kleine poetisch-poetologische Alphabetisierungskampagne.

Ich glaube, schon in meiner Tübinger Zeit stieß ich auf eine sarkastische Sentenz von Alfred Polgar: Wir werden dann noch schreiben, wenn die anderen schon nicht mehr lesen werden. Mit meinem Verständnis vom Schreiben als Kulturtechnik im Dienste eines Existentials und von der Poesie als einem Hochpräzisionsinstrument dachte ich damals und über eine lange Zeit, Fluchtpunkt und Quintessenz meiner Lehre mögen es sein, Leser von und für morgen heranzubilden und diesen Satz von Polgar Lügen zu strafen. Neuerdings aber hat sich meine Lesart der Polgarschen Vermutung gespenstisch radikalisiert. Aus dem emphatisch-exklusiven Wir der Schriftsteller ist im Zeitalter von Facebook & Co ein Alle geworden. Alle schreiben immerzu. Wer liest? Was bedeutet: Schreiben?

Vor meinem mehrgipfligen Schlussplädoyer für die Lebensform Schriftsteller im Öffentlichen Dienst rasch noch ein Wort zur Tübinger Eingangsfrage. Was mich betrifft – und da scheue ich eine Generalisierung -, so fand ich bald heraus, dass sich Lehren und Schreiben gut vertragen. Gewiss handelt es sich auch um eine Naturellfrage, und ich stamme aus einem Geschlecht sächsischer Dorfschullehrer und verfüge womöglich über ein pädagogisch gekrümmtes Gen. Doch darüber hinaus bietet die Hochschule dem Disziplinierten einen hohes Maß an Zeitsouveränität. Nach der Einsamkeit am Schreibtisch habe ich den Seminarraum als einen wunderbaren Ort sozialer Erfahrungen und kommunikativer Vitalität zwischen Generationen erlebt. Und ökonomische Unabhängigkeit ist für einen Autor ein hohes Gut. Des Verhüllungskünstlers Christo weise Ermahnung im Ohr, dass die Finanzierung des Kunstwerks Teil des Kunstwerks sei, musste ich mir deswegen nicht länger Sorgen machen. Und aus den USA konnte man schon lange wissen, dass dort der Campus eine unabhängige Literatur ernährte. Der Imagewandel zeigt die Radikalisierung des Ökonomischen an: Vor fünfundzwanzig Jahren, zu Beginn meines literarisch-akademischen Doppellebens, trafen mich gelegentlich spöttisches Mitleid oder leise Verachtung wegen dieser Entscheidung; heute, da auch der Literaturbetrieb zu einer Filiale der Siegerkunst zu werden droht, schlägt mir eher blanker Neid entgegen.

Schriftsteller an die Hochschulen! Diesem kategorisch-empirischem Imperativ möchte ich mit einigen gewichtigen gesellschfts-, kultur—und hochschulpolitischen Gründen Nachdruck verleihen.

Es gibt, genau besehen, keinen Studiengang und kein akademisches Fach, der oder das nicht ins Weltmedium Sprache gebettet ist und seine Studierenden auf Schriftlichkeit verpflichtet. Was für eine entscheidende Rolle kommt rhetorischer Souveränität in jedem Gerichtssaal zu. Schulunterricht ist, trotz und jenseits aller medialer Möglichkeiten, sprachlich verfasst. Walter Benjamin hat in dem gleichnamigen Denkbild an den Zusammenhang von Erzählung und Heilung erinnert. Wäre der einmal während seines Studiums mit Erzähltheorie in Berührung gekommene Arzt nicht viel besser für die Anamnese eines Patienten gerüstet? Dies nur als exemplarische Andeutungen.

An den meisten Hochschulen und Universitäten schaut man sich vergebens nach einem Ort um, an dem die Fragen von Sprachlichkeit und Schriftlichkeit reflektiert werden. Einen den Hörern aller Fakultäten zugänglicher Ort in der Tradition der Artistenfakultät, wie das „Studio Literatur und Theater“ in Tübingen. Es gibt vielerlei Sprachen in der Welt, und nichts ist ohne Sprache, wusste schon Paulus (1. Korinterbrief 14, 10). Schriftsteller an die Hochschulen! – ein überfälliges Desiderat. Fände dieser Imperativ Resonanz und entstünden an den deutschen Hochschulen dem Tübinger „Studio“ vergleichbare Institute, so käme dieser Gründungsinitiative neben ihrer bildungspolitischen Funktion auch eine beträchtliche kulturpolitische Bedeutung zu: Es handelte sich um klug durchdachte Literaturförderung auf Gegenseitigkeit. Ich kenne etliche Schriftstellerinnen und Schriftsteller von Rang, die in prekären Verhältnissen leben und schreiben und für solch ein akademisches Amt taugten. Und ich sehe nicht wenige Autoren meiner Generation auf der Schwelle zu einer schrecklichen Altersarmut. Wie demütigend, wenn man sich mit Zweiundsechzig noch um einen Stadtschreiberposten in Senftenberg oder Bramsche bewerben muss, für 700,- netto und mit Residenzpflicht.

Im November 2017 trat ZEIT-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo als Festredner beim Dies academicus an der Uni Bayreuth auf, er warb bei den Studierenden um mehr Mut und die Bereitschaft, in stürmischen Zeiten Verantwortung zu übernehmen. Uns dann entdeckte ich in der Rede den Satz: Ich bin davon überzeugt, dass es während des Studiums auch um Herzensbildung gehen sollte. Herzensbildung halte ich nicht für eine Kompetenz, und ich rechne sie auch nicht den soft skills zu. Es handelt sich um ein hohes, womöglich das höchste Bildungsgut. Wer liest, ist unterwegs dorthin, vielleicht.

Was ich last but not least in meinem Plädoyer für die Werkstatt der Wörtlichkeit als gewichtiges Argument anführen möchte: Hier wird eine Sprache der Kritik vermittelt und eingeübt, die über das nuanciert angemessene Besprechen von Texten weit hinausgeht. Kritik ist Unterscheidungskunst, und nicht, wie es zeitgenössischer Wortgebrauch oft nahelegt, Querulanz, Nicht-Positiv-Denken-Wollen oder verkappter Neid. Stürmische Zeiten. Weltweite Latenz eines Populismus, der die Demokratien zu verfinstern beginnt. Schichtenunabhängige Asozialität. Authentizitätsfuror bei zunehmend totalitärer Konsenskonditionierung. Verschwörungstheorien, die sich aufklärerisch gerieren. Fake News und notorische Denunziation des Komplexen. Eine künstliche Intelligenz auf der Schwelle zu Deep Fake – Technologien, die bald in Videos mimisch vitale Gesichter anderen Körpern aufzupfropfen imstande sind. Eine bedrohliche epistemische Krise. Wie können wir etwas wissen? Viele Hochschulen, auch meine, veranstalten jährlich eine Nacht des Wissens und ahnen nicht, wie genau die Metapher eine Spielart des zeitgenössischen Obskurantismus trifft. Einige exemplarische Stichworte markieren das schwierige Terrain. Leuchtet nicht unmittelbar ein, welche Bedeutung in dieser Gemengelage einer hermeneutischen Bildung zukommt, die allemal sprachlich verfaßt ist? Welch aufklärerischer Rang einem Verständnis von Fiktionalität? Kritik als methodisch begabte Unterscheidungskunst, die da, wo allenthalben im binären Code Cool! Oder Scheiße! hinreichen, über ein Repertoire der Angemessenheit verfügt. In seiner hellsichtigen Schrift „Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus“ von 1924 redete Helmuth Plessner vermeintlich altmodischen Tugenden wie Respekt, Distanz, Takt und Herzensbildung das Wort, um dem aufziehenden Gemeinschaftsradikalismus seiner Zeit Paroli zu bieten. Eine Lektüreempfehlung für alle Werkstätten der Wörtlichkeit im Sommersemester 2018! Und warum sollte man dort, eine Erbschaft der alten Artistenfakultät, nicht von Zeit zu Zeit daran erinnern, dass die Lebenskunst in der Antike noch zu den schönen Künsten zählte.

Ein imaginiertes Dramolett zum Schluss. Ort der Handlung: Der Stadtpark Hamburg, im Frühling 2052, zur Zeit der Rhododendrenblüte. Zwei Illustratorinnen begegnen sich zufällig bei einem Spaziergang wieder, einst Kommilitoninnen am Department Design, inzwischen Mitte Siebzig. Eine in Begleitung ihres Mannes. „Weißt du noch, damals, in der Werkstatt der Wörtlichkeit, bei Hegewald.“ „Das war doch der, der im Seminar immerzu die Brillen wechselte.“ „Ja, und einer der letzten Dozenten, den wir nicht duzen mussten.“ Er hat uns beigebracht, was ein Zeugma ist. Eine schon in der Antike bekannte rhetorische Figur.“ „Dann hat Hegewald stets Heinz Erhardt als Virtuosen im Gebrauch von Zeugmata zitiert: Ich würgte den Motor ab und das Brötchen hinunter.“ „Was für Unsinn man sich über all die Jahre merkt!“ „Und einmal haben wir sogar ein ganzes Semester lang Claude Simon gelesen.“ „War das nicht jener französische Modedesigner, der auch geschrieben hat?“, warf der Mann der Illustratorin ein, um auch einmal etwas zu sagen. „Bei vielen Menschen ist es bereits eine Unverschämtheit, wenn sie Ich sagen. Muss ich ebenfalls bei Hegewald aufgeschnappt haben“, prustete die andere Illustratorin.

„Er, Hegewald, müsste auf die Hundert zugehen.“ „ Und wenn er nicht gestorben ist, so schreibt er gewiss noch heute.“