Übersicht Montag 01.11.2021

Sein Handwerk verstehen

Aus einer Werkstatt der Wörtlichkeit / eine Inventur

Ein schöner Zufall Früh schon wollte ich ein anderer sein. Gern wäre ich woanders gewesen, am liebsten überall. Dazu trugen gewiss die fürsorglichen Würgegriffe meines kleinen, engen Herkunftslandes bei. Ich fand mich als Leibeigener eines monströsen Zwergenstaates vor und entdeckte beizeiten die Bibliothek als eine herrliche Fluchthelferbande. Auch wenn ich auf den Namen Hegewald verpflichtet war, habe ich den Wunsch nie verstanden, Wurzeln schlagen und mit der stationären Genügsamkeit eines Baumes vegetieren zu wollen. Luftwurzen, vielleicht. Dass Lesen und Schreiben zwei Aggregatzustände ein- und derselben Sache waren, ahnte und begriff ich bald. Lektürerausch; Selbstentgrenzungsphantasien; erste Schreibversuche; eine Krume Größenwahn: So oder so ähnlich sieht die Gemengelage des Begehrens, ein Schriftsteller werden zu wollen, am Anfang vermutlich oft aus.
Um endlich eine von mir selbst zu verantwortende, allemal prekäre Existenz als Schriftsteller führen zu können, musste ich erst einmal das Weite suchen. Dass das nichts weiter als gut Gemeinte politisch ins Elend und ästhetisch in den Kitsch oder die authentische Einfalt führt, diese Lektion habe ich nie wieder vergessen.
Zehn Jahre brachte ich mich als freier Autor durch und sammelte allerhand Erfahrungen mit dieser Lebensform, ihren Möglichkeitsbedingungen, Höhen, Tiefen und Abhängigkeiten.
Dann ereignete sich ein schöner Zufall, und ich trat mit meiner doppeldeutschen Biografie in ein weiteres Doppelleben ein: als Schriftsteller im Öffentlichen Dienst. Im Jahr 1993 begann meine Arbeit als Hochschullehrer an der Universität Tübingen. Unter allen Bewerbern war mir die Möglichkeit zugefallen, ein Schreibinstitut curricular prägen und eröffnen zu können. Eine Werkstatt der Wörtlichkeit. Angesiedelt am Studium Generale, Studierenden aller Fakultäten zugänglich, in der Tradition der alten Artistenfakultät. Wie würde sich mein eigenes Schreiben, der Glutkern meiner Existenz, mit meinen Verpflichtungen als Dozent vertragen? Das wusste ich anfangs nicht, sehr wohl aber, dass sich mir diese Chance kein zweites Mal böte. Allein in der Praxis würde es sich zeigen und ich es herausfinden, und damit wieder aufzuhören, lag allein bei mir. An dieser Stelle soll der Hinweis nicht fehlen, dass die Bezeichnung freier Autor eine Zeitsouveränität suggeriert, die der Realität in den allermeisten Fällen nicht entspricht. Nur ganz wenige Schriftstellerinnen und Schriftsteller können ihren Lebensunterhalt allein vom Buchverkauf bestreiten. Zur Erwerbsstruktur gehören Lesungen, Stipendien, journalistische Brotarbeiten, Workshops, redaktionelle Dienstleistungen, Taxifahren, tatsächlich oder in einem metaphorischen Sinn, alles Unternehmungen von einem beträchtlichen, auch zeitlich nicht unerheblichen Aufwand. – Vom Phänotyp des schreibenden Prominenten – Fußballer, Schauspieler; Bergsteiger, Literaturkritiker etc. – rede ich hier nicht; das steht auf einem anderen Blatt. –
Worauf ich hinaus will: Ein Hochschullehrer arbeitet, auch was sein Zeitregime betrifft, sehr selbstbestimmt.
1996 erhielt ich einen Ruf nach Hamburg, auf eine Professur für Poetik, Rhetorik und Creative Writing. Ein Wahlpflichtfach an einem Department Design. In der Diskussion nach meinem Vorstellungsvortrag reklamierte ich das eigene Schreiben als den Forschungsanteil an der Professur für mich. So geschah es.
Lehren heißt, zeigen was man liebt, so hat es der Religionspädagoge Fulbert Steffensky einmal durchtrieben schlicht formuliert. In der Formel Jemand versteht sein Handwerk drückt sich nicht nur routinierte Professionalität aus, wie es der umgangssprachliche Gebrauch vermuten lässt. Es schwingt auch mit, dass dazu eine permanente implizite Reflektion gehört, ein Oszillieren zwischen Erfahrungswissen, Rationalität und Intuition.
Wer lehrt, wer in einer Werkstatt der Wörtlichkeit Satzbaulehrlinge ästhetisch und methodisch unterrichtet und anleitet, wird auch sein eigenes Handwerk besser verstehen lernen.
Mein Doppelleben als Schriftsteller im Öffentlichen Dienst währte fünfundzwanzig Jahre. Mit der Zeit wuchs meine Dankbarkeit für diesen schönen biografischen Zufall immer mehr. Schreiben ist ein einsames Geschäft, und die Werkstatt der Wörtlichkeit erwies sich als ein lebendiger sozialer Ort, an dem, im Gravitationsfeld des Weltmediums Sprache, das Gespräch glückte, über Sätze und Bücher, Grammatik und, was Ingeborg Bachmann einst „Starkstrom Zeitgenossenschaft“ nannte, und auch über die Generationen. Und als Schriftsteller gewährte mir diese Lebensform die Unabhängigkeit, zu tun und zu lassen, was ich wollte. Zu schreiben, was mir entsprach. Alle ökonomischen Sorgen und Zukunftsängste waren abgewendet, ohne dass mein Selbstanspruch an mich und mein Schreiben darunter gelitten hätte. Der Freiheitsbegriff, den ich als Autor für mich und meine Arbeit geltend machte, nahm keinen Schaden.
Exkurs: Glück, Zufall, Intuition. „Man sah den Wegen am Abendlicht an, daß es Heimwege waren.“ Robert Walser. Ich muss auf der Hut sein, dass mein Rückblick nicht unversehens einen Stich ins Idyllische, Verklärende bekommt. Alter triggert die beschönigende Selbstverzerrung. Unsere Erinnerungen sind skrupellose Bewusstseinsagenten, die vor allem eins im Sinn haben: dafür zu sorgen, dass wir gut mit uns selbst weiterleben können.
Der Psychologe Daniel Kahnemann, Nobelpreisträger in der Kategorie Ökonomie, schreibt in der Einleitung zu seinem Buch SCHNELLES DENKEN, LANGSAMES DENKEN: „Ein wiederkehrendes Thema dieses Buches ist, dass Glück in jeder Erfolgsgeschichte eine große Rolle spielt; wenn die Geschichte einen nur etwas anderen Verlauf genommen hätte, wäre statt einer bemerkenswerten eine mittelmäßige Leistung herausgekommen.“ Dieses Buch, das eine luzide Analyse der systemischen Fehler unseres intuitiven Denkens bietet und von dem bestürzenden Einfluss unserer Illusionen auf unser Handeln berichtet, gehört ebenso in die Handbibliothek einer Werkstatt der Wörtlichkeit wie Jean Pauls Vorschule der Ästhetik oder Judith Macheiners Das grammatische Variete Oder Die Kunst und das Vergnügen, deutsche Sätze zu bilden.
Wir gestehen uns nicht gerne ein, wie sehr die Tyrannen Zufall und Zeit unsere Existenz bestimmen, auch unsere literarische. Glück ist einer der abgründigsten Begriffe unserer Umgangssprache. Wenn Napoleon seine Truppen visitierte, interessierten ihn weniger das taktische Geschick, die persönliche Tapferkeit oder die militärischen Erfolge eines Offiziers. Napoleons Frage lautete: Hat er Glück?
In der Geschichtsphilosophie, einer Disziplin, die sowohl den Historiker als auch den literarischen Erzähler interessieren sollte, spielt der Zufall in der Kategorie der Kontingenz eine Rolle. Als kontingent gilt, was weder notwendig noch unmöglich ist.
Von dem um 980 in der Nähe von Buchara geborenen Arzt, Dichter, Philosophen und Universalgelehrten Avicenna, der auf Persisch und auf Arabisch publizierte, stammt eine Formel, die sich mir ihres präzisen Sarkasmus wegen für immer eingeprägt hat: Wer die Kontingenz leugnet, müsste so lange gefoltert werden, bis er zugibt, dass er auch nicht hätte gefoltert werden können.
Mir hat beim Prosaschreiben die Macht des Zufalls seit jeher zu denken gegeben. Auch wegen der semantischen Überlappungen. Zukunft, Zufall und Einfall korrespondieren familiär. Zukunft ist für hartgesottene Realisten, zu denen ich mich nie zählte, der Tod; sonst nichts. Für Sprachsüchtige eine durch die Grammatik ermöglichte Fiktion, ein offener Sprachraum. Was kommt mir zu? Was fällt mir zu? Sind Einfälle womöglich nichts anderes als Zufälle, die der poetisch schwach Alphabetisierte nicht bemerkt, weil sein Zufallssinn verkümmert und sein Wahrnehmungsorgan für phantastische Möglichkeiten und Fiktionen atrophiert ist?
Lob der Etüde. Wie möbliert man eine Werkstatt der Wörtlichkeit an einer Hochschule angemessen? Den romantischen deutschen Sonderweg einer Genieästhetik, die bestreitet, dass man Schreiben lehren und lernen kann, lasse ich jetzt beiseite. Er scheint mir historisch abgegolten. Mit einem Pragmatismus angelsächsischer Provenienz fasse ich Schreiben zuerst und vor allem als eine Kulturtechnik auf, die sich vermitteln lässt. Ein Dilemma, das einem dabei leicht in die Quere kommt: Im Unterschied zu Kulturtechniken wie dem Komponieren eines Streichquartetts oder der Verfertigung einer Lithografie handelt es sich nach landläufiger Vorstellung um etwas Selbstverständliches. Der halbwegs Alphabetisierte wirft herablassend ein: So what? Lesen und Schreiben kann jeder. Ja und nein; jetzt wird es vertrackt. Es trifft halbwegs zu, und es verkennt, dass die Sprachspiele der Literatur und Poesie methodisch und mutwillig eine Grenze überschreiten: Sie erlösen die Worte von der Befangenheit, etwas bedeuten zu müssen, das jeder richtig versteht. Nicht das Richtige, das Wahre und sein Wortlaut sind die Domäne der Poesie. „Die Poesie hat keine Bedeutung. Sie lässt sie entstehen.“ (Peter Waterhouse)
Schauen wir nur ein paar umgangssprachlichen Redensarten, die gern in der Befehlsform daher kommen, bei der Arbeit zu.
Erzähl mir nichts! Keine Geschichten, bitte!
Blanker Argwohn gegenüber subversiver Fiktionalität.
Heraus mit der Sprache!
Die chronische Vermutung gefährlicher Konterbande.
Diese Torte ist in Gedicht!
Herrlich grotesk, wenn Beckmesser zur lyrischen Kalorienwaage greift.
Zurück zur Innenausstattung der Werkstatt der Wörtlichkeit. Was ist curricular angemessen und sinnvoll? Als ich mich, 1993 in Tübingen, mit diesen Fragen beschäftigt habe, versuchte ich mich zu erinnern, was ich mir als junger Autor am meisten gewünscht habe, in Sachen Schreibhandwerk und poetologischer Assistenz.
Eine Grundsituation des Anfängers: Ein überbordender Mitteilungswille wird noch kaum oder nur schwach durch ein Formbewusstsein kontrolliert und auf Distanz gebracht. Hier kommt das Lob der Etüde in Spiel. Das Übungsstück mit einem vorgeschriebenen Thema hilft dabei, zu begreifen, dass auch das glühende Material beim Schreiben kalt gehalten werden muss, und es fördert die Herausbildung eines Formenrepertoirs. Etudes. Erst seit kurzem weiß ich, dass das Wort im Französischen auch Arbeitszimmer bedeuten kann.
Was sich in meiner Werkstatt der Wörtlichkeit etabliert und bewährt hat: Grundbedingung und Voraussetzung für ein offenes und im Handwerklichen entschiedenes kritisches Gespräch über eigene Texte, und seien es Etüden, ist ein Klima der Sympathie, das auch Halbgelungenes oder Gescheitertes ernst nimmt und analytisch betrachtet, ohne Häme. Gern habe ich dafür ein Diktum von Heinrich Böll herangezogen. Nicht der sei als Künstler gescheitert, dem etwas misslingt, sondern jener, der nichts mehr riskiere. Das Klima der Sympathie ist einem Handwerksethos verpflichtet. Auch wer vermeintlich nichts weiter als ein Stück Seife beschreibt, gibt etwas Persönliches, ja Intimes von sich preis.
Noch ein paar Basics aus der Werkstatt der Wörtlichkeit im Stenogramm. Gemeinsame Lektüre; lautes Vorlesen. Von der Weltliteratur kommen die Maßstäbe her. Jeder literarische Text spielt nicht nur mit Bedeutungen, sondern ist auch eine Partitur. Die Trinität der Poesie als Satzgefüge, Schriftbild und Wortlaut. Die beglückende Erfahrung eines Gespräches über das Gelesene, das jeden Seitengedanken und jede Abschweifung erlaubt. Im Alltag ist ein Leser mit seinem Buch meist allein, und niemand außer ihm scheint es zu kennen. Sobald er vom öden Boulevard der Bestsellerlisten abgebogen ist.
Bei der Besprechung der eigenen Texte, der Etüden, habe ich übrigens ein Verfahren favorisiert, das der Autorin oder dem Autor, nachdem sie oder er ein Prosastück vorgetragen haben, das alle Anderen ausgedruckt mitlesen können, kein Rederecht gewährt. Die Vorzüge dieser vermeintlich harten Maßgabe: Das Verfahren simuliert die Situation einer Veröffentlichung. Der Text ist in der Welt und gilt, Wort für Wort und Satz für Satz. Keine Autorin, kein Autor kann ihm nachrufen, was sie oder er gewollt, gemeint oder beabsichtigt hatten. Und der kritische Disput über einen Text, der gewissermaßen seinen natürlichen Anwalt verloren hat, eröffnet gruppendynamisch neue, nichtkonfrontative Konstellationen.
Textbesprechung, die möglichst jeden grammatischen, poetologischen und technischen Aspekt bedenkt. Literarischer Rang entscheidet sich allemal am Wie, nicht am Was. Ezra Pound hat das Kriterium für das Gelungensein eines literarischen Kunstwerkes einmal lapidar auf den Begriff gebracht. Ist die technische Ausführung schlecht, so heißt das so viel wie falsches Zeugnis ablegen. Du sollst nicht falsch Zeugnis reden, eine Frage von Wortwahl und Satzbau. Das achte Gebot aus Dr. Martin Luthers kleinem Katechismus, in die Zeugnisformen der Schriftlichkeit transponiert. Gefällt mir.
Noch ein drittes Element ist nach meiner Erfahrung konstitutiv für die Arbeit in einer Werkstatt der Wörtlichkeit. Das Training der Fähigkeit zum Unsinn, salopp gesagt. Wir Alphabetisierten werden von klein auf am Gängelband der Sprachkonventionalität durch die Lebenswelt geführt und sind auf Bedeutung konditioniert. Semantische Scheuklappen und ein strenges Sinnkorsett verengen den Blick und schnüren uns ein. Dieses Gängelband zu kappen und, mit Jean Paul gesprochen, der Sprache die Zunge zu lösen, gehören zur poetischen Emanzipation in der Schreibschule.
Der Rest und die didaktische Hauptsache: learning by doing.
Exkurs: Ort und Geld. Ich habe, auch ein Zufall, in den ich mit der Zeit immer mehr eingewilligt habe, mein Doppelleben als Schriftsteller im Öffentlichen Dienst zwar an Hochschulen geführt, aber jenseits der professionellen Autorenausbildung, wie sie durch einschlägige Studiengänge, in Leipzig, Hildesheim oder Biel, beispielsweise, angeboten wird. So sehr ich es begrüßte, dass Creative Writing an den deutschen Hochschulen Einzug hielt, mir wäre vor der Verantwortung bange geworden, Studierende auf dem Weg zu diplomierten Schriftstellern für ein Konkurrenzuniversum zurichten zu müssen.
Wenn jemand akademischer Maler auf seine Visitenkarte drucken lässt, hat er es, auf dem Kunstmarkt zumindest, meist nicht weit gebracht, vorsichtig gesagt.
Kürzlich habe ich in einem seriösen Feuilleton eine Zahl aufgeschnappt, die mich bestürzt hat: An deutschen Kunst-, Theater-, Musik-, Medien- und Schreibhochschulen sind derzeit 38000 Studierende immatrikuliert. Was soll nur, schoss es mir durch den Kopf, aus ihnen allen werden?!
Es ist schon einige Jahre her, dass ich im Radio ein Gespräch mit dem Rektor einer Musikhochschule hörte. Danach gefragt, was er den Studienanfängern bei der Begrüßung an der Hochschule sage, erklärte der Rektor, er rede flehentlich auf die vor Glück über ihre Zulassung strahlenden Neuen ein, sie möchten es sich noch einmal ganz genau überlegen, ob sie ihre Existenz wirklich aufs Cellospiel setzen oder an den Bassbariton hängen wollten. Der Markt sei längst übersättigt, und er sehe das Elend der vielen hochbegabten und gut ausgebildeten Absolventen vorher. Nichts ist abgefeimter und perfider als die oft neoliberal grundierte Parole, wer nur genug an sich selbst glaube, setze sich schon durch.
Das wusste schon Napoleon besser: Hat er Glück? Die abgründige Frage.
Mit meinen Azubis in der Werkstatt der Wörtlichkeit habe ich periodisch eine essentielle Auskunft des Verhüllungskünstlers Christo behandelt: Die Finanzierung eines Kunstwerkes ist Teil des Kunstwerkes. Wer eine Existenzform als Künstler wählt, möge sich penibel Rechenschaft über seine Bedürfnisse und Kompromissbereitschaft geben. Was brauche ich wirklich? Welcher Brotberuf kommt in Betracht, welches Lebensmodell nicht. Aus einem Debüt, das einige Beachtung gefunden hat, eine lebenslängliche Alimentierungsberechtigung, womöglich durch den Staat, abzuleiten, halte ich nicht nur für arrogant, sondern auch für fahrlässig. Die Lebenskunst zählte in der Antike, beiseite gesprochen, auch zu den schönen Künsten.
Verhüllungskünstler Christo verpflichtete sich auf den Grundsatz, keinen Cent aus Steuermitteln für die Realisierung seiner monumentalen Projekte in Anspruch zu nehmen. Er verkaufte Skizzen, Bilder und akquirierte Spenden, bis er das nötige Kapital beisammen hatte.
Ein kurzer Blick zurück genügt, um zu erkennen: Weder das Phänomen noch die Einsicht ist neu.
1851 hat Herman Melville – er arbeitete damals an einem Walepos, das seine Erfolglosigkeit als Schriftsteller zu Lebzeiten besiegeln sollte – ebenso knapp wie hellsichtig artikuliert, was seither gilt: „Was mich am meisten zu schreiben drängt, das unterliegt dem Bann – es zahlt sich nicht aus…Wozu etwas kunstvoll ausarbeiten, was nach seinem ganzen Wesen so kurzlebig ist wie ein modernes Buch?“
Und Robert Walser, seit 1896 in Zürich, heuerte eines Tages vorübergehend in in einer Schreibschule für Stellungslose an. In diesem Institut – das ist keine Erfindung von Jorge Luis Borges – verdiente sich Walser seinen Lebensunterhalt als Kopist. Im schwachen Licht einer Petroleumfunzel fertigte er in seiner kalligrafisch schönen Schrift Abschriften im Auftrag von Firmen, Organisationen oder Privatpersonen an.
Schriftsteller im Öffentlichen Dienst. Ein schöner Zufall, ich werde nicht müde, es zu erwähnen, sorgte dafür, dass ich meine Werkstatt der Wörtlichkeit jeweils an einem Ort der Freiheit und Freiwilligkeit betreiben konnte.
In Tübingen am Studium Generale. Das Angebot richtete sich an Studierende aller Fakultäten, die neugierig darauf waren, sich einmal jenseits von Pflicht und Leistungsdruck im Weltmedium Sprache auszuprobieren. Da schimmerte ein uraltes Ideal durch: dass Wissenschaft und Poesie einst ungetrennt waren, verschiedene Erkenntnismodi. An der Universität Tübingen hatte sich bereits Ludwig Uhland darum bemüht, dieser Einsicht Geltung zu verschaffen. Sein Stilisticum, 1830 / 31 ebenfalls eine Einladung an alle Fakultäten, zielte auf das Desiderat ab, Gelehrsamkeit müsse sich mit den Mitteln der Sprache verständlich machen können und nicht selbstgenügsam im Reservat der Fachjargons verharren. Theorein, das griechische Verb bedeutet sehen, und mit der Anschauung, dem geduldigen Hinsehen, beginnen Wissenschaft und Poesie. Vom Sehen und Begreifen gelange ich zum Begriff und zur Theorie. Und was ist ein literarischer Einfall anderes als eine unverhoffte Beobachtung.
Literarizität, die Selbstentdeckung einer bislang verborgenen Begabung, das war in meiner Werkstatt der Wörtlichkeit, in Tübingen oder Hamburg, allemal die erfreuliche Ausnahme.
Vielleicht läge ich nicht falsch, wenn ich, mit sanftem Sarkasmus, meine Werkstatt der Wörtlichkeit als einen Studienort deklarierte, wo eine poetische Alphabetisierungskampagne glücken mochte. Literarische Materialkunde. Die Hellhörigkeit im Sprachlichen und Grammatischen befördern. Grundlagen der Textarchitektur vermitteln.
Was außerdem für diesen vermeintlich exotischen Ort am Studium Generale spricht: Wer, welches Fach auch immer, an einer Universität studiert, ist permanent auf Schriftlichkeit und Wörtlichkeit verpflichtet. Klausuren, Hausarbeiten. Examensarbeiten. Seminardispute. Dieser Umstand wird nirgendwo reflektiert. Und die Verpflichtung auf sprachliche Ausdrucksformen endet mit dem Studium nicht. Welche Macht hat die Sprache in jedem Gerichtssaal. Oder in jedem Klassenzimmer, im Unterrichtsgespräch. Die Anamnese, mit der ein Arzt zu seinem Patienten in eine Beziehung tritt, ist ein subtiles Sprachgeschehen – oder sollte es jedenfalls sein.
In einem Denkbild hat es Walter Benjamin einmal wunderbar skizziert: Vielleicht beginnt die Heilung mit dem Erzählen der Krankengeschichte.
Der Dichter Oskar Pastior hat es – unter dem ironischen Vorbehalt „wenn ich eine Utopie hätte“ – einmal so formuliert: „Alle Unterrichtsfächer an den Schulen sollten doch bitte immer auch Sprachfächer sein; selbst der Physikunterricht; selbst der Literaturunterricht.“
Thema und Variation: In Hamburg, am Department Design der Hochschule für Angewandte Wissenschaften, stand meine Werkstatt der Wörtlichkeit allen Studierenden der Studiengänge Illustration, Kommunikationsdesign, Modedesign und Kostümdesign ab dem dritten Semester offen, bei strikter Freiwilligkeit. Wer kam, wollte für sich selbst etwas herausfinden.
Angehende Fotografen interessierten sich für das Spiel mit Bild-Text-Korrespondenzen. Illustratoren, unzufrieden mit den ihnen angebotenen Texten, hatten eigene Erzählideen, nur keinerlei Schreibpraxis. Ob Kinderbuch, Comic, Graphic Novel, Videokunst, Animationsfilm, Editorial Design, Typographie, Kostümdesign, Game-Entwicklung – im gesamten Kosmos der angewandten Künste spielen Sprachränder und Erzählstrategien eine wesentliche Rolle; eine Fülle an künstlerischen Berührungspunkten.
Die Alten haben es schon immer gewusst. An der inzwischen legendären Hochschule für Gestaltung in Ulm war das Bewusstsein lebendig, dass der Bezirk der Sprachlichkeit unbedingt in den Lehrkanon gehört. Dort haben Autoren wie Alexander Kluge, Hans Magnus Enzensberger und Albrecht Fabri unterrichtet, bis die Politik der Hochschule mit der finanziellen Abrissbirne den Garaus machte. 1968 was Schluss.
Während der zweiundzwanzig Jahre meiner Lehre am Department Design in Hamburg habe ich übrigens ein generalistisches didaktisches Konzept verfolgt: Keine Spezialtrainings für Advertising oder Kinderbuchillustration. Sondern eine Werkstatt der Wörtlichkeit, in der anhand einer Schreibpraxis poetologische Grundfragen von Satzbau und Wortlaut, Grammatik und Sprachspiel behandelt werden. Da erworbene und gesammelte Erfahrungen konnte dann jede und jeder in seine spezifische künstlerische Disziplin mitnehmen und dort anwenden.
Schriftsteller an die Hochschulen! Dieser Imperativ verbindet bildungspolitische Vernunft mit kulturpolitischer Umsicht.
Kulturpolitische Umsicht: Die Existenzform als Schriftsteller im Öffentlichen Dienst gewährt Autoren eine große ökonomische und ästhetische Unabhängigkeit. Ich sehe derzeit nicht wenige Kolleginnen und Kollegen von Rang, die ihr Leben frei gefristet haben, in eine bittere Altersarmut driften.
Hochschulpolitische Vernunft: Sprach- und Schreibunterricht im Sinne einer von mir skizzierten Werkstatt der Wörtlichkeit halte ich an Hochschulen und Universitäten für dringend geboten, nicht als Dekor oder Ornament, sondern essentiell. Damit Bildung glückt, auch Herzensbildung. Analphabetentum tritt auch bei Leuten auf, die Deutsch täuschend gut beherrschen; es ist ein schichten- und klassenunabhängiges Phänomen. Wie Herzensbildung auch. Wer dies als romantische Verstiegenheit oder die Flausen eines Literaten abtut, mag seine Ansicht in Zeiten von hate speech und shitstorm erschrocken überdenken.
Weltverwahrlosung beginnt allemal mit Sprachverwahrlosung. Die Revolutionsgarden der identitären Fundamentalisten, welcher Coleur auch immer, fallen von vielen Seiten über unsere Gesellschaft her und marodieren mit den Mitteln sprachlicher Gewalt. Sie verwüsten zusehends die Öffentlichkeit, jene wesentliche Möglichkeitsbedingung für Freiheit. Und für Literatur.
Last but noch least: Jede Werkstatt der Wörtlichkeit, in die ein Schriftsteller im Öffentlichen Dienst einlädt, ist nicht zuletzt eine kleine poetische Alphabetisierungskampagne, die nicht nur dem Schreiben gilt, sondern auch das Lesevermögen schult und bildet. Wo im besten Fall die Wortlust überspringt, teilt sich auch das Vergnügen an einer bildmächtigen, den periodenreichen Satz nicht scheuenden, die Ambivalenz menschlicher Erfahrung präzise verkörpernden Sprache mit. In Zeiten grassierender syntaktischer Einfalt kein geringer Ertrag. Dass wir beim Lehren an unsere Leser von morgen denken, nenne ich einen produktiven Egoismus. Damit Alfred Polgar mit seinem sarkastischen, inzwischen siebzig Jahre altem Bonmot nicht recht behält: Wir werden dann noch schreiben, wenn die anderen schon nicht mehr lesen werden.
Exkurs Sättigungsgrade. Schriftsteller im Öffentlichen Dienst sind, wie andere Autoren auch, von großer Aufmerksamkeitsbedürftigkeit und einer mehr oder weniger kontrollierbaren Eitelkeit, um nicht von einem intrinsischen Narzissmus zu sprechen. Eine Prosaminiatur des Philosophen Hans Blumenberg setzt einen ironischen Reflex auf die Megalomanie von Schriftstellererwartungen. Sie trägt den Titel „Sättigungsgrade“.
Sind 50 Leser schon eine Leserschaft oder müssen es mindestens 500 sein? Beginnt literarische Bekanntheit bei 5000 Lesern, oder setzt sie 50000 voraus?
Und so kulminiert in dem Kabinettstück von Blumenberg die Eskalationslogik der Schriftstellereitelkeit: Hätte ein von seiner eigenen Bedeutung ganz und gar kontaminierter Autor die Gewissheit, die Hälfte der Weltbevölkerung nähme von seinem Werk Notiz, so fragte er sich bald: Und was macht eigentlich die andere Hälfte?
Unterscheidungskunst. Einem Fundamentalbegriff aus der Werkstatt der Wörtlichkeit, der in den Gesprächsformen des Creative Writing eine entscheidende Rolle spielt und zugleich weit in den Raum von Politik, Gesellschaft und Öffentlichkeit hinüberreicht, möchte ich ein besonderes Augenmerk schenken. Dem Begriff der Kritik. Kritik ist Unterscheidungskunst, die argumentiert, begründet und zu bedenken gibt. Kritik legt ihre eigenen Maßstäbe offen. Wo denkst du hin? Warum denkst du, was du denkst? Kritik ist angewandte Hermeneutik.
Ohne die Fähigkeit, Kritik im Sinne von Unterscheidungskunst angemessen zu artikulieren, gibt es keine Urteilskraft, die aus der Beliebigkeit des Meinens heraustritt. Wer urteilt, übernimmt, nach Hannah Arendt, die Verantwortung für sein Sprechen. Das wird gern mit dem Hang zur Rechthaberei verwechselt.
Der professionelle Kritiker hat derzeit in der öffentlichen Wahrnehmung keinen guten Ruf und wird mit Argwohn betrachtet. Er gilt leicht als Querulant und korinthenkackerischer Spaßverderber. Weil ihm Bauchgefühl und Plotverständlichkeit als ästhetische Letztbegründungen nicht genügen. Und weil er an der allgegenwärtigen positiven Authentizität sarkastisch herummäkelt. Sarkasmus ist übrigens, in einer Werkstatt der Wörtlichkeit sei es erwähnt, ein Handwerkerbegriff. Im Altgriechischen heißt sarx Fleisch, und Sarkasmus bezeichnet den scharfen Schnitt mit einem Spezialmesser, mit dem ein Metzger das Fleisch von den Knochen trennt.
Wie oft habe ich es erlebt, dass Kunststudenten hilflos vor einem Artefakt stehen und ihr kritisches Repertoire sich auf cool oder Scheiße beschränkt, ohne eine Skala der Nuancierungen.
Das literarische Quartett, der überregionale literarische Disput um Zweiten Deutschen Fernsehen, verzichtet inzwischen demonstrativ darauf, Literaturkritiker einzuladen.
Kurzum: Dem Umstand, dass in einer Werkstatt der Wörtlichkeit geduldig und kontinuierlich eine Sprache der Kritik trainiert und eingeübt wird, messe ich allerhöchste Bedeutung zu, literarisch und politisch. Ein unabdingbarer Teil der poetischen Alphabetisierungskampagne.
In Zeiten, da der Influencer an die Stelle des Experten rückt und Querdenker mit alternativen Fakten erfolgreich hausieren gehen.
Ein schöner Schluss. Im Sommer 1994 bin ich zu Gast an der University of Iowa gewesen, etwa zwanzig Jahre, nachdem dort T.C. Boyle einen Schreibkurs bei John Cheever belegt hatte. Nichts als Maisfelder und in einem Klima der Sympathie gedeihende akademische Begeisterung weit und breit.
Nach einer Lesung vor Studentinnen und Studenten am German Department staunte ich nicht schlecht, wie versiert und enthusiastisch zugleich das Gespräch über das vorgetragene Prosastück geriet und glückte. Abschweifungen, mit Arabesken spielende Passagen, grammatische Finessen und das Differenzierungspotential des deutschen Konjunktivs – nichts blieb verborgen und unerwähnt.
Als ich mich am Ende des Seminars danach erkundigte, woher denn dieser Überschwang und diese sich im Fachlichen nicht erschöpfende Anteilnahme rührten, mit denen die Kursteilnehmer sich für Textwelten in einer fremden Sprache interessierten, da antwortete einer, dessen Hautfarbe vermuten ließ, seine Vorfahren seien als Sklaven nach Amerika gekommen: Weil’s Spaß macht, man!
Das ist ein schöner Schluss.